Donnerstag, 31. August 2017

Josef Kraus und das Sündenregister deutscher Bildungspolitik (Teil 2)


Josef Kraus
Unter dem Titel „Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungs-nation gescheitert ist“ kritisiert der ehemalige Schulleiter und aktuelle Präsident des Deutschen Lehrer-verbands, Josef Kraus, in der Reihe "Aula" des SWR in deutlichen Worten das Sündenregister der deutschen Bildungspolitik, einer „Politik wider jede Vernunft“.

Nach den Sünden des „Egalitarismus“ und der „Hybris“ bespricht Kraus die Sünde der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik: „Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilten.“ In der Folge würden jedoch „Leistung“ und „Anstrengung“ vor allem von einer 68er geprägten Pädagogik schier zu Missgunst-Vokabeln erklärt. Und immer noch sei im Zusammenhang mit Schule in übler Weise die Rede von „Leistungsstress", „Leistungsdruck", „Leistungsterror".

Spaßpädagogik in der Sek II ...
Dagegen setzt Kraus: „Bildung ohne Anstrengung geht nicht. Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und auch mehr zumuten. Aber in der Folge werden die Ansprüche heruntergefahren: der mutter- und fremdsprachliche Wortschatz wird gekürzt; ein Auswendiglernen von Gedichten findet fast nicht mehr statt; das Einprägen von historischen oder geographischen Namen und Daten gilt als vorgestrig; Grundschüler dürfen gegen jede Orthographieregel „phonetisch“, das heißt: nach Gehör, schreiben; die lateinische Schrift soll durch die Grundschrift ersetzt werden.“

Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Kraus nach bereits Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. „Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus.“

Wer daher Leistung und Anstrengung zu Missgunst-Vokabeln mache, versündige sich an der Zukunft der Kinder und der Gesellschaft, „denn wer das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen.“

Auch der moderne Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter ist nur realisierbar, wenn er durch die Leistung und Anstrengung von Millionen von Menschen getragen wird. „Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun.“

Leistung und Anstrengung
So könne und dürfe das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden. Auch im internationalen, im globalen Wett-bewerb ginge es nicht ohne Leistung. Vielmehr sollte man froh sein, wenn ein Staat leistungshungrige Spitzenschüler für zukünftige Eliten habe. „Demokratie in Deutschland darf nicht zum Diktat des Durchschnitts werden“, so Kraus: „Eine zur Gleichheit verurteilte Gesellschaft wäre zur Stagnation verurteilt. Vor einem solchen Hintergrund ist selbst Ungleichheit gerecht – nämlich dann, wenn Elite allen nützt, wenn das Handeln von Eliten quasi zu einem „inequality surplus”, zu einem Mehrwert führt.

Die vierte Sünde im bundesdeutschen Sündenregister ist die Quotengläubigkeit: „Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abitur-Zeugnis bekommen und es dürften möglichst wenig oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!“

Es sei nach Kraus daher überfällig, „über die Opportunitätskosten einer gerade von OECD, Bertelsmann Stiftung und Co. permanent eingeforderten Überbewertung von Gymnasium/Studium und einer Vernachlässigung der beruflichen Bildung nachzudenken, ..... das heißt, nachzudenken, was es uns kostet bzw. was uns entgeht, wenn wir die berufliche Bildung weiter so vernachlässigen wie zuletzt. Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Über- und Pseudoakademisierung sein, weil sie einhergeht mit einem gigantischen Fachkräftemangel.“

Für viele scheint der Mensch immer noch 

beim Abitur zu beginnen ...
Dabei sei doch bewiesen, dass es dort, wo man eher niedrige Abiturienten- Quoten hat, es zugleich die besten Wirtschaftsdaten gibt. Das zeige sich nicht zuletzt am Ausmaß von Jugendarbeitslosigkeit: „Hier haben oft sogar vermeintliche Pisa-Vorzeigeländer mit Gesamt-schulsystemen eine Quote, die deutlich über derjenigen Deutschlands oder gar der süddeutschen Länder liegt. Zuletzt gab es in Deutschland eine Quote an arbeitslosen Jugendlichen von 7 Prozent, in den schulpolitisch vermeintlich vorbildlichen Ländern dagegen Quoten um 20 Prozent: in Schweden mit 20,2 und in Finnland mit 21,7 Prozent. In Baden-Württemberg und Bayern hatten wir übrigens Quoten zwischen 2 und 3 Prozent. Länder mit vergleichsweise niedriger Studierquote und dualer Berufsbildung liegen also erheblich besser.“

Demgegenüber scheint immer noch für viele der Mensch beim Abitur zu beginnen. „Eigentlich entspringt solches Denken einem egalitären, sozialistischen Denken. Nun aber kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit absondern, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung.“

So solle nun alles an „Bildung“ in Quoten und Rankingtabellen messbar sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ und damit verdinglicht. „Das ist Kapitalismus, Ausbeutung pur.“

Schon 1961 habe die OECD - die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet - in einem Grundsatzpapier festgehalten: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“ Nette Vergleiche sind das!

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017

Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, Reinbek 2013 - Ist die Bildung noch zu retten? - eine Streitschrift, München 2009 - Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005 - Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.

Donnerstag, 24. August 2017

Josef Kraus und das Sündenregister deutscher Bildungspolitik (Teil 1)

Josef Kraus
Unter dem Titel „Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungs-nation gescheitert ist“ kritisiert der ehemalige Schulleiter und aktuelle Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, in der Reihe "Aula" des SWR in deutlichen Worten das Sündenregister der deutschen Bildungspolitik, einer „Politik wider jede Vernunft“.

Ausgangspunkt von Kraus´ Überlegungen ist zunächst die Frage, ob nicht der Begriff „Sünde“ und die damit verbundenen Assoziationen – „Religion, Theologie, Kirche, Glauben, Aberglauben, Gott, Teufel, letztem Gericht, Himmel, Hölle“ – im Kontext mit Bildung zu weit hergeholt sein mögen.

„Was hat Bildungspolitik mit Religion zu tun?“ Eine Menge, sagt Kraus, denn immer „häufiger drängt sich der Eindruck auf, dass Bildungspolitik mit all den von ihr verbreiteten Ängsten und Horrorszenarien im Gegenzug gerne zu Heilsversprechungen neigt. Ängste werden – wohl zur Vorbereitung der Heilversprechungen - geschürt und apokalyptische Bilder gemalt: von Bildungspolitikern, von Bildungsforschern, von Lobbyisten, von Stiftungen usw. Ihnen geht es um Bildungsverlierer und Bildungsarmut, die ach so krankmachende Schule, die ach so selektierende Schule, traumatisierte Schüler, frustrierte und frustrierende Lehrer.

Darauf und dagegen setzt man dann Heilsversprechungen: Gymnasium und Abitur für alle! Lebensraum Schule! Offene Schule! Lernen mit Spaß und ohne Anstrengung! Keine Kränkungen mehr durch Noten und Zeugnisse! Kein Stress mehr mit Hausaufgaben und Auswendiglernen! Ausschließlich selbstgesteuertes, intrinsisches, hirnbasiertes Lernen! Kein Frontalunterricht! Am Ende dann angeblich hochkompetente junge Leute, fit für das globale Haifischbecken! Vor allem aber ist gerechte Bildung angesagt!“

Die bildungspolitische Heilsversprechungen?
Das sind die Sünden!
Wie passen nun die Heilversprechen der „educational correctness“ und die Rede von Sündenregistern zusammen? Ganz einfach, behauptet Kraus, „denn so paradox es klingt: Die bildungspolitischen und pädagogischen Heils-versprechungen, das sind die Sünden!“

Als erste Todsünde nennt Kraus den Egalitarismus: „Das ist der Irrglaube, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja sogar die Geschlechter, von denen es ja nicht nur zwei, sondern bis zu sechzig geben soll, gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“

Gegen dieses Postulat setzt Kraus dagegen, dass die Schule keine Institution zur Herstellung von Gleichheit sei, sondern zur Förderung von Verschiedenheit und Individualität. Natürlich sei das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht aufhebbar – deshalb gelte auch, was Goethe meinte: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“.

Kraus erinnert in diesem Zusammenhang an das warnende Wort von Alexis de Toqueville (1835): „Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete.“

Die Frage müsse daher lauten: „Soll ein Bildungswesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein?“ Die Antwort für Kraus ist eindeutig: „Gewiss doch an der Freiheit! Auch wenn wir dazu neigen, jede Form von Ungleichheit zu skandalisieren, gilt: Die „conditio humana“ kennt keine Gleichheit. An der Unterschiedlichkeit und an der Vielfalt von Menschen ändern keine noch so moralisierende egalitäre Zivilreligion, kein Bildungssystem und auch kein noch so gestalteter Unterricht etwas.“

Der pädagogische Egalitarismus kranke nun einmal an einem unüberwindbaren Dilemma: „Egalitäre Schulpolitik erzielt vermeintliche Gleichheit allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigeren Milieus in ihren „restringierten Codes“ fest. Selbst ein hochindividualisierender Unterricht zementiert Unterschiede. Denn: Je besser der Unterricht ist, je erfolgreicher Schüler individuell gefördert werden, desto mehr spielt die genetische Anlage eine Rolle. Und die ist schlicht und einfach unterschiedlich!

Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit!

Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Das Prinzip Leistung und das Prinzip Auslese sind nun einmal die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist Auslese eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung von Kindern.

Die anti-thetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung! Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen. Gleichmacherei wäre auch nur gefühlte Gerechtigkeit.“

Die zweite von Kraus beschrieben Sünde ist die Sünde der Hybris: „Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar!“) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem „begabt“ werden. Ja mehr noch: Hier glaubt der Mensch, via Bildungssystem Schöpfer spielen zu dürfen.“

Kraus setzt dagegen die Überzeugung: „Es gibt Unterschiede in der Begabung von Menschen. Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine „vermeintliche Begabung“ geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die Forschung hat eindeutig nachgewiesen, dass die Hälfte bis zwei Drittel des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt ist.“

Mitte der 1960er Jahre glaubten jedoch selbsternannte "Reformer" verkünden zu können, dass es Begabung als angeborene Fähigkeiten nicht gebe. „Alles Verhalten einschließlich aller geistigen Fähigkeiten sei soziogen, so hieß es; das Endogene, das Genetische könne, ja müsse vernachlässigt werden, weil der Glaube daran Ungerechtigkeiten fortschreibe ... Wer anderes im Sinn habe, sei zumindest ein Biologist.“

Die Behavioristen – vor allem John B. Watson und Burrhus F. Skinner – vertraten demgegenüber im Rahmen der Milieutheorie die These, derzufolge Intelligenz und Schulerfolg durch die Schichtzugehörigkeit eines Individuums und durch die "Primärerziehung" determiniert seien. Sie verkündeten, „nur die Umstände entschieden darüber, ob ein Mensch ein bewundertes Genie oder ein Verbrecher werde. Daraus leitete sich ein grenzenloser Optimismus ab, der das Neugeborene hinsichtlich Dispositionen als „tabula rasa", als „white paper" sehen wollte, auf dem Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten.“

In der Folge gerieten Begriffe wie „Begabung“ und „Intelligenz“ und schließlich auch auch Intelligenztests und der Intelligenzquotient IQ in Misskredit, standen doch beide Instrumente bzw. Messgrößen im Verdacht, Schichtzugehörigkeit zu zementieren.

Begabungen gibt es ...
Dabei hätte man Kraus zufolgen schon sehr früh wissen können, dass die Wahrheit in der Mitte liegt: „Weder Anlage und genetische Disposition noch Umwelt und individuelle Soziogenese können für sich allein erhellend wirken, wenn es um Fragen der intellektuellen Entwicklung geht. Nur wenn Anlagefaktoren und Umweltfaktoren zusammen gesehen werden, gewinnt man ein realistisches Bild von menschlicher Entwicklung, denn Anlage und Umwelt wirken - heute sagt man: „synergetisch" - zusammen wie Boden und Klima: Der beste Boden bringt keine reiche Ernte, wenn das Klima miserabel ist, und das beste Klima lässt nicht üppig Früchte tragen, wenn der Boden es nicht hergibt.“

Menschen würden nun einmal unterschiedlich auf die Welt kommen. „Wer völlige Chancengleichheit will, müsste die Menschen entmündigen. Er dürfte beispielsweise ausschließlich die Schwächeren und Langsameren fördern. Die Stärkeren und Schnelleren müsste er den Eltern wegnehmen, sie aus der Schule verbannen, ihnen jede Möglichkeit nehmen, Zeitung zu lesen, Rundfunk zu hören, Fernsehen zu schauen, Museen zu besuchen, ins Internet zu gehen.“

Beim Start in die Bildungslaufbahn müssten nach Kraus daher selbstverständlich alle die gleichen Ausgangschancen haben, gleiche Zielchancen kann es aber nicht geben.

Schon 1972 habe der Begabungsforscher Christopher Jencks in seinem Buch „Inequality“ die Behauptung vertreten, Chancengleichheit durch Bildung sei eine Illusion, „denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig verteilt wäre, schlagen doch andere Unterschiede durch: familiäre Förderung, Begabung usw.. Die kompensatorische Erziehung kann die Handicaps der Unterprivilegierten nicht total kompensieren.

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017

Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017  -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, Reinbek 2013  -  Ist die Bildung noch zu retten? - eine Streitschrift, München 2009  -  Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005  -  Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.


Donnerstag, 17. August 2017

Humboldt und die humanistische Bildung (Teil 2)


Nach einer kurzen Zeit als Staatsdiener wendet sich Humboldt erneut seinem Lieblingsthema zu, dem Studium der Antike. Vielleicht auch, weil hier in den Wirren der Moderne eine bleibende Orientierung zu finden ist: ein Menschenbild, das an eine ewige Vernunft glaubt und daher nicht von politischen Interessen vereinnahmt werden konnte. 

Wilhelm von Humboldt
So ist es gerade kein Zufall, dass Humboldt sein Bildungsideal in der bereits erwähnten - eher politisch ausgerichteten - Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen ausformuliert: „Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“

Diese proportionierlichste, also harmonische oder ausgewogene Bildung der persönlichen Kräfte solle sich zwar im Wechselspiel mit der Gesellschaft vollziehen, aber in großer individueller Freiheit: „Jede Bemühung für die Fortschritte des Menschengeschlechts, die nicht von der Ausbildung der Individuen ausginge, würde schlechthin fruchtlos sein.“

Humboldt war in dieser Zeit ein „freier Intellektueller“, er lebte auf den Gütern seines Schwiegervaters oder in Erfurt mit seiner Frau und bildete sich selbst - dann ging er für 6 Jahre als Botschafter an den Vatikan. Das machte er nicht aus Glaubensgründen, sondern weil er gern in Rom lebte, wo er noch die Ruinen und die Spuren der Antike erlebte.

In Berlin ist inzwischen Napoleon einmarschiert und hat weite Teile Deutschlands in seine Abhängigkeit gebracht. Es wird deutlich, dass die deutschen Kleinstaaten der neuen europäischen Großmacht wenig entgegensetzen können, weder militärisch noch kulturell. Der Ruf nach besserer Bildung wird laut, auch um schließlich den preussischen Staat wieder aufzubauen. Eine Chance für Wilhelm von Humboldt, seine Überlegungen zur Bildung nun umzusetzen.

Im Rahmen einer Reformbewegung in Preussen, nach dem verlorenen Krieg gegen Napoleon 1808/1809, sucht man jemanden, der das Bildungswesen wieder modernisiert. Da fiel der Blick auf Wilhelm von Humboldt, der doch so gern in Rom geblieben wäre, und es brauchte dann zwei Briefe des Königs, damit Wilhelm von Humboldt gegen seinen Willen nach Preussen, nach Berlin zurückkam und das gesamte Bildungswesen von der Volksschule oder der Elementarschule bis zur Universität reorganisierte.

Im Zeitalter der Aufklärung ist der Optimismus mit Händen zu greifen. Weil man mit Bildung eine bessere Welt schaffen kann, deshalb ist sie so wichtig für die Aufklärer - im Grunde ist sie der Schlüssel für alles Weitere.

Bildung ist wichtig, weil man nur durch neue Erkenntnisse, durch das Trainieren der Vernunft und des logischen Denkens weiterkommt. Und legt Humboldt so viel Wert darauf, die Schulen zu reformieren, überhaupt Schulen anzubieten da, wo sie noch nicht existieren - flächendeckend, in der Breite - Kinder und Jugendliche zur Schule zu schicken, die bisher nicht in den Genuss eines guten Unterrichts gekommen sind.

Wilhelm von Humboldt wird "Leiter der Section für Kultus und Unterricht in Preussen", eine Art Bildungsminister. In nur 16 Monaten arbeitet er ein dreistufiges Schulsystem aus, das freilich schon in der preußischen Verwaltung vorbereitet worden war, mit Elementarschule, höherer Schule und akademischem Studium. Für alle Stufen betont er dabei den Aspekt der "Allgemeinen Menschenbildung".

In einem "Bericht an den König", adressiert an Friedrich Wilhelm III., vom Dezember 1809 schreibt Humboldt: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf.“

Obwohl Humboldt selbst nie eine Schule besucht hatte, soll er nun den öffentlichen Unterricht organisieren. Das konnte er jedoch vor allem deshalb, weil er von der Grundidee überzeugt war, dass in jedem Menschen eine bestimmte Kraft steckt, eine bestimmte Neugier, ein bestimmter Trieb zur Bildung, für den man dann den passenden Raum zur Verfügung stellen muss.

Humboldt musste also darüber nachdenken, welche Räume sind geeignet, um den individuellen Bildungstrieb von Menschen optimal zu entwickeln.

Schule im 19. Jahrhundert
An manchen Orten gibt es schon engagierte Lehrer, Pfarrer oder Gutsherren, oft aus der philanthropischen Bewegung, die Erfahrungen mit neuen Unterrichtsformen gesammelt hatten. Zum Beispiel in der Dorfschule von Reckahn bei Brandenburg. Das Dorf Reckahn gehört um 1800 zum Gutshof des Friedrich Eberhard von Rochow und seiner Frau Luise. Schon 1773 hatten die beiden eine Dorfschule für die Kinder ihrer Bauern eröffnet, die nach den Methoden der Philanthropen unterrichtete.

Zwar saßen Jungen und Mädchen im Klassenraum getrennt, aber sie wurden gemeinsam unterrichtet. Die Bänke waren über Eck gestellt, heute würden man sagen “im modernen Halbkreis“, so dass der Lehrer keinen Frontalunterricht machte, sondern in diese Mitte gehen konnte und die Schüler dann um sich herum hatte.

Die Dorfschule zog immer mehr Besucher an. Aus den Schulbehörden, aus den preußischen Ministerien, aber auch aus den gelehrten Zirkeln Berlins. Der beliebte Lehrer Bruhns musste öffentlich unterrichten und danach seine Methoden erläutern. Später bildete er selbst Lehrer aus.

Anfang des 19. Jahrhunderts gilt die Dorfschule Reckahn als gelungenes Praxisbeispiel. Im Nachbardorf Krahne, das auch zum Gut von Rochow gehört, entstehen ein Lehrerseminar und eine Schullehrerkonferenzgesellschaft - der Beginn einer systematischen Lehrerbildung. Auch für die Stadtschulen führte Humboldts Reform eine Lehrerausbildung ein.

Die Krönung seines Vorhabens sieht Wilhelm von Humboldt in der Gründung einer Universität in Berlin. Auch in der universitären Ausbildung führte Wilhelm von Humboldt nun ein dialogisches Prinzip ein: Die Gleichberechtigung von Lehrenden und Lernenden, das Miteinander von Lehre und Forschung sollte die neugegründete Berliner Universität prägen. Zwar sollte an der Universität natürlich auch eine kluge Staatselite herangebildet werden, aber, um es mit heutigen Worten zu sagen, ohne die Individualität des einzelnen zu verbiegen und ohne ihn zu einem Fachidioten zu machen. Es müsse Raum bleiben für ein freies Spiel der intellektuellen Kräfte.

„Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, damit die gelingende Tätigkeit des einen den Anderen begeistere, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.“

So führt eine Linie vom weiten Horizont der Kindheit, vermittelt durch Pädagogen wie Johann Heinrich Campe, bis zur postulierten Freiheit des Wissenschaftlers, für die Humboldt sich einsetzt.

Doch in der europäischen Politik steigert sich der Nationalismus. Der Wissenschaftler und Diplomat Humboldt tritt noch einmal auf großer Bühne auf und vermittelt beim Wiener Kongress 1814/15 zwischen den Nationen, setzt sich für Liberalität und gegen eine nationalistische Abschottung ein. Dann zieht er sich aus der Politik zurück, auch aus der Bildungspolitik. Seine Vorstellungen von einer zweckfreien Forschung und einem individuellen Bildungsweg stoßen an Grenzen.

Der individuelle Bildungsweg ...

In den letzten Lebensjahren, in seiner Bibliothek in Tegel, studiert er noch Sanskrit und Chinesisch. Immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen über das Andere, das Fremde. Sein Ziel einer ganzheitlichen Menschenbildung im Sinne von Toleranz, Ausgewogenheit und lebenslanger Neugier war und ist bis heute ein Ideal, scheint vielen überholt oder realitätsfremd. Doch es bleibt ein kritischer Spiegel.

Wenn heute Schüler durch Lehrpläne gehetzt werden, ohne Zeit für selbstbestimmtes Lernen zu haben, wenn an Universitäten gepauktes Wissen aus dem Kurzzeitgedächtnis reicht, um ein Examen zu bestehen, und wenn Standesunterschiede und ungleiche Lernchancen auf neue Weise zementiert werden - dann lohnt es, sich an das vielseitige Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts zu erinnern.


Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv


Donnerstag, 10. August 2017

Humboldt und die humanistische Bildung (Teil 1)

Eine der fundamentalen Ideen der Aufklärung bestand bekanntlich darin, durch Bildung aller Schichten und Stände die Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Am Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich allmählich das Postulat durch, dass so etwas wie allgemeine Menschenbildung selbst Bauernkinder erreichen soll.

Dabei ging es in erster Linie darum, dass man nicht zweckorientiert lernt im Sinne einer Berufsbildung, sondern allgemeine Menschenbildung: Was heißt es, Mensch zu sein, was heißt es, für die Gesellschaft tätig zu sein, was heißt es, für sein individuelles Wohlsein zu sorgen - dass man eine Zeit des Nachdenkens und der Muße wenigstens am Beginn des Lebens, in der Jugendzeit, allen Menschen ermöglicht.

Wilhelm von Humboldt
Auch Wilhelm von Humboldt erklärt die Bildung zum höchsten Ziel des Lebens: „Der wahre Zweck des Menschen ... ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“, heißt es in der Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen - ein frühes Manifest des Liberalismus. Humboldt verteidigt darin den Anspruch, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen.“

Am 22. Juni 1767 wurde Wilhelm von Humboldt in Potsdam geboren, zwei Jahre später kommt sein Bruder Alexander zur Welt. Der Vater ist ein preußischer Offizier und Kammerherr am Hofe Friedrichs des Großen, die Mutter eine vermögende, bildungsbedachte Adlige aus einer Hugenottenfamilie. Die Jungen genießen eine relativ unbeschwerte Kindheit, im Sommer im Familienschloss am Tegeler See, im Winter in der Berliner Stadtwohnung am Gendarmenmarkt. Sie können mit 12 Jahren schon mehrere Sprachen und lesen viel.

Der frühe Tod des Vaters 1779 wirft einen Schatten auf ihre Seele, Erzieher versuchen die Lücke zu füllen, darunter vor allem der Pädagoge Joachim Heinrich Campe. Campe war „Philanthrop“ (gr. "Menschenfreund"), wie sich die Anhänger einer pädagogischen Reformbewegung nannten, inspiriert vom französischen Philosophen Jean Jaques Rousseau und seinem Erziehungs-roman "Emile".

Man wollte vor allem die Lernfreude der Kinder wecken. Kindgerecht sollte die Erziehung sein, naturnah und freundschaftlich statt autoritär. Das richtete sich gegen die hergebrachte Strafpädagogik, aber auch gegen den erbarmungslosen Drill vieler Kinder zu kleinen Erwachsenen, der je nach gesellschaftlichem Stand auf einer Ritterakademie oder Offiziersschule stattfand, in einer Buchbinderwerkstatt oder Kirchensakristei, auf dem bäuerlichen Feld oder in der Webstube.

Das Neue und Interessante an Campes Pädagogik ist, dass er versucht hat, ein Gespräch zuzulassen zwischen Lehrern und Schülern. Dass er die Schüler animiert hat, auch dumme Fragen, naive Fragen zu stellen, die er nicht zurückgewiesen hat, aber sie sollten mit dem Lehrer in ein Gespräch kommen, von sich aus mit ihren Fragen sich Stück für Stück der Beantwortung eines Problems nähern, um die Welt eigenständig begreifen zu lernen -  fast wie in der Wissenschaft.

Eigenständiges Denken ...
Für Campe ging es in der Erziehung um die Lust am selbständigen Lernen und Neugier auf die Vielfalt der Welt. Die Botschaft Campes an die Humboldts in dieser frühen Zeit ist die: Seht die Welt mit Augen an so, dass ihr versteht, die Vielfalt ist ein Reichtum. Das Andersartige ist eine positive Herausforderung und dieses ist beides jedenfalls keine Bedrohung. Wenn wir wissen wollen, was wir als Menschen vermögen, erreichen können, wer wir überhaupt sind als Mensch, dann müssen wir die Vielfalt kennenlernen - das Menschsein und die Menschheit in ihrer Vielfalt.

Als Wilhelm von Humboldt 1788 in Göttingen ein Jura-Studium beginnt, öffnen sich neue intellektuelle Möglichkeiten und Freiheiten - jenseits der mütterlichen Aufsicht, die auf eine anständige Karriere als Jurist in Staatsdiensten gepocht hatte. Humboldt legt dann zwar auch sein Jura-Examen ab, aber wichtiger bleiben ihm eigene Interessen.

Dazu gehören zum Beispiel die Sprachen und Kulturen der Antike, die damals, zurzeit von Klassik und Neuhumanismus, als Zeugnis höchster Menschenbildung gelten. Der griechische Geist sei "ein Ideal desselben, was wir selbst sein und hervorbringen möchten" schrieb Humboldt und idealisierte die griechische Polis als vorbildliches Gesellschaftsmodell.

An den antiken Sprachen und Texten könne man daher Charakter und logisches Denken schulen. Diese Annahme wurde später auch Grundlage der "humanistischen Gymnasien" mit ihrem Unterricht in Griechisch und Latein. Aber für Wilhelm von Humboldt und seine Zeitgenossen gab es noch eine andere faszinierende Kultur.

1789 brach der Student Humboldt mit seinem Lehrer Campe zu einer Reise auf - in das revolutionäre Paris. Es sind die Wochen nach dem Sturm auf die Bastille. Im Namen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden die feudalen Machtstrukturen eingerissen. Für Wilhelm von Humboldt ein bewegendes Beobachtungsfeld: wie reagierten die Menschen in Paris jetzt?

Die ganze „deutsche Intelligenz“ - die Schlegel Brüder, die Humboldts, Goethe und viele andere mehr - waren begeistert eingetreten für die Freiheitsideale und dann waren sie - das ist das Tragische - auch sehr schnell enttäuscht davon, denn die Revolution endet zunächst in blutigem Terror. Napoleon schließlich beginnt nach 1800 einen Feldzug gegen andere europäische Länder.


Vielfalt: Die Grundlage für ein universelles Menschheitsideal

Humboldt hält dennoch an einem universellen Menschheitsideal fest, wie es in der Revolution formuliert worden war - im Gegensatz zu vielen anderen Gelehrten, die sich nach den Besetzungen durch Napoleon nationalistisch und völkisch orientierten, mit einer romantischen Besinnung auf die ganz eigene Kultur.

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv