Donnerstag, 24. September 2015

Arthur Koestler und der Kommunismus - Teil 2

In dem Buch „Ein Gott, der keiner war“ (Erstauflage 1950) beschreibt Arthur Koestler – zusammen mit fünf weiteren Intellektuellen - die Fahrt in den Kommunismus und die Rückkehr aus ihm. Gemeinsam ist ihrem Zeugnis, dass alle den Kommunismus anfänglich als eine Vision des Reiches Gottes auf Erden sahen, „bis jeder von ihnen die Kluft entdeckte, die zwischen seiner eigenen Vision von Gott und der Wirklichkeit des kommunistischen Staates klaffte – und der Gewissenskonflikt erreichte seinen kritischen Punkt.“


Arthur Koestler (1905 - 1983)
Zwischen 1932 und 1933 bereiste Koestler die Sowjetunion. Koestler nahm natürlich die katastrophalen Zustände in der Sowjetunion wahr - es herrschte gerade eine Hungersnot, die Millionen von Opfern forderte -, aber er blieb dennoch dem Kommunismus verbunden, da er die Verhältnisse, die er beobachtete, noch als unvermeidliche „Nachwehen“ der Revolution ansah und auf eine Verbesserung hoffte.

„Mein Aufenthalt in der Sowjetunion dauerte ein Jahr. Was ich sah und erlebte, war für mich ein harter Schock – aber gleichsam ein Schock mit Zeitzündung. Meine Parteierziehung hatte mich mit so kunstvollen geistigen Stoßdämpfern und dialektischen Wattepolstern ausgestattet, daß alles Gesehene und Gehörte sich automatisch in den vorgefaßten Rahmen fügte.

Ich sah die Hungerrationen in den Kooperativen und erfuhr, daß der Preis für ein Kilogramm Butter auf dem Freien Markt dem Monatslohn eines durchschnittlichen Arbeiters, und der Preis für ein Paar Schuhe zwei Monatslöhnen entsprach. Aber ich hatte gelernt, daß Tatsachen nicht nach ihrem Nennwert zu beurteilen sind und daß man die Dinge nicht statisch, sondern im dynamischen Zusammenhang betrachten muß. Der Lebensstandard war ohne Zweifel niedrig; aber unter dem zaristischen Regime war er halt noch niedriger gewesen. Der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern ging es zwar besser als in der Sowjetunion, aber das war eben ein statischer Vergleich; denn hier in Sowjetrußland befand sich der Lebensstandard ja im Ansteigen, unter dem Kapitalismus dagegen im Sinken.“


"Tag für Tag wird das Leben noch besser!" 

Koestler dachte sich, dass für den Weiterbestand der von einer feindlichen Welt umgebenen Sowjetunion diese Art von  Propaganda eben eine unerläßliche Notwendigkeit sei: „Die notwendige Lüge und Verleumdung; die notwendige Einschüchterung der Massen zur Verhinderung kurzsichtiger Irrtümer; die notwendige Liquidierung aller Oppositionsgruppen und feindlichen Klassen; die notwendige Opferung einer ganzen Generation im Interesse der nächsten – all das mag ungeheuerlich klingen und war dennoch so leicht zu schlucken für den, der sich im Zustand der Gnade des absoluten Glaubens befand.“

Eigentlich hätte es nach seinen Erfahrungen in Russland nun schon zum Bruch Koestlers mit dem Kommunismus kommen können, aber „eine Reihe von äußeren Ereignissen und inneren Rationalisierungen erleichterte es mir, weiter mitzumachen, und verzögerte den endgültigen Zusammenbruch meines Glaubens.

Das wichtigste dieser äußeren Ereignisse war der VII. Weltkongreß der Komintern im Jahre 1934, der eine neue Politik, eine vollkommene Negation der bisherigen Parteilinie einleitete – die jedoch wie immer durch dieselben Führer in die Tat umgesetzt werden sollte. Alle revolutionären Schlagworte, alle Hinweise auf den Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats wurden mit einem gewaltigen Schwung in die Rumpelkammer gekehrt. Ihre Stelle nahm eine nagelneue Fassade mit Blumenkasten in den Fenstern ein, die `Volksfront gegen den Krieg und Faschismus´.

Das Podium des VII. Kongresses der Komintern mit den Portraits von
Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir I. Lenin und Josef Stalin

Wir nannten uns jetzt nicht mehr „Bolschewisten", nicht einmal Kommunisten – der öffentliche Gebrauch dieser Worte galt jetzt in der Partei als anrüchig; wir waren einfache, ehrliche, friedliebende Antifaschisten und Verteidiger der Demokratie.“

Koestler bemerkt, dass das wirksamste Mittel, um sein Gewissen zu betäuben, darin besteht, sich selbstlos und von ganzer Seele einer Arbeit hinzugeben. Die Missetaten des Sowjetregimes und des Kominternapparates traten in den Hintergrund zurück, das einzige, worauf es nun ankam, war der Kampf gegen Hitler und den drohenden Krieg. „Keiner von uns verstand, daß unsere Führer den Kampf nicht ernst meinten; daß wir die Schatten in einem Scheingefecht waren.“

Und so verhält sich auch Koestler in dieser Situation so wie viele andere Intellektuelle auch: „Die einzige dialektisch korrekte Haltung war, dabei zu bleiben, das Maul zu halten, die Galle herunterzuschlucken und auf den Tag zu warten, an dem, nach der Niederwerfung des Feindes und dem Sieg der Weltrevolution, Sowjetrußland und die Komintern bereit waren, zu demokratischen Einrichtungen zu werden. Dann, und nur dann, würden die Führer über ihre Handlungen Rechenschaft ablegen müssen: über die vermeidbaren Niederlagen, die mutwilligen Opfer und die Fluten von Dreck und Verleumdung, unter denen die Elite unserer Genossen umgekommen war. Bis zu jenem Tag hatte man das Spiel weiter mitzumachen – ja sagen und widerrufen, ableugnen und denunzieren, ideologischen Speichel lecken und kräftig schlucken, wenn es einem hochkam; dies war der Preis für die Erlaubnis, sich weiter sozial nützlich zu fühlen und auf solche Art seine pervertierte Selbstachtung zu bewahren.“

1937, während des Spanischen Bürgerkriegs, ging Koestler als Kriegsberichterstatter nach Spanien, wo er von den Truppen Francos gefangengenommen und als Spion standrechtlich zum Tode verurteilt wurde. Er war fünf Tage im Gefängnis von Málaga in Isolierhaft, während dieser Zeit wurden dort fünftausend Menschen erschossen. Koestler wurde dann nach Sevilla verbracht. Die Briten erreichten nach neunzig Tagen auf dem Wege eines Gefangenenaustauschs seine Freilassung.

Schauprozess in Moskau (1936)
Unter dem Eindruck der großen stalinistischen Säuberungen und Schauprozesse wandte sich Koestler 1937/38 schließlich vom Kommunismus ab: „Dann erfuhr ich, daß im Zusammenhang mit den Massensäuberungsaktionen in Sowjetrußland mein Schwager und zwei meiner engsten Freunde verhaftet worden waren. Alle drei gehörten der KPD an (…).

Jeder einzelne von uns hat mindestens einen Freund, von dem er weiß, daß er in einem Arbeitslager der Arktis umgekommen ist, als Spion erschossen wurde oder spurlos verschwand. Wie erbebten doch unsere Stimmen vor gerechter Empörung, wenn wir gelegentliche Haschläge der Justiz in den westlichen Demokratien aufzeigten, und wie eisern hielten wir den Mund, wenn unsere Genossen auf dem sozialistischen Sechstel der Erde ohne Verhandlung und Urteil liquidiert wurden. Jeder von uns schleppt seine Toten in den Kellergewölben seines Gewissens herum; zusammenaddiert gibt es da mehr Gerippe als in den Pariser Katakomben (…).

In keinem Jahrhundert und in keinem Lande sind so viele Revolutionäre umgebracht oder zu Sklaven gemacht worden wie in Sowjetrußland. Und da ich selbst sieben Jahre lang für alle Torheiten und Verbrechen, die unter dein Banner des Marxismus begangen wurden, eine Ausrede zu finden wußte, ist für mich das Schauspiel dieser dialektischen Seiltänze, mit deren Hilfe im Grunde anständige Leute ihr eigenes Gewissen betrüge; noch entmutigender als die schlichte Barbarei der Armen im Geiste. Wer die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten dieser Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens kennt, der weiß auch ungefähr, wie lange man darauf herumtanzen kann, bis es reißt.“

Langsam war in Koestler die Erkenntnis gereift, „daß der Mensch eine Realität ist und die Menschheit eine Abstraktion; daß man Menschen nicht als Zahlen in einer politischen Gleichung behandeln kann, weil sie sich wie die Zeichen für Null oder Unendlich verhalten, die alle mathematischen Berechnungen aus den Fugen bringen; daß der Zweck die Mittel nur innerhalb sehr enger Grenzen heiligt; daß die Ethik nicht nur eine Funktion sozialer Nützlichkeit ist und Nächstenliebe kein kleinbürgerliches Sentiment, sondern die Gravitationskraft, die jede Zivilisation zusammenhält. Nichts muß platter klingen, als wenn man ein Erlebnis, das sich schon seiner Natur nach jedem sprachlichen Zugriff entziehen muß, in Worte zu fassen versucht; und dennoch war jeder einzelne dieser trivialen Gemeinplätze unvereinbar mit dem kommunistischen Glauben.“

Der Mensch ist eine Realität und die Menschheit eine Abstraktion

Das Ende kam auf eine durchaus undramatische Art. Im Frühjahr 1938 hatte Koestler vor dem „Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Paris" einen Vortrag über Spanien zu halten. Die Rede enthielt keinerlei direkte Kritik gegen die Partei oder gegen Sowjetrußland. Aber sie enthielt drei sorgfältig formulierte Sätze, die für normale Menschen Gemeinplätze waren, für Kommunisten einer Kriegserklärung gleichkamen. Der erste dieser Sätze lautete: „Es gibt keine Unfehlbarkeit einer Person, einer Bewegung, oder einer Partei." Der zweite hieß: „Toleranz dem Feinde gegenüber ist ebenso selbstmörderisch wie Intoleranz dem Freunde gegenüber, der dasselbe Ziel auf einem abweichenden Wege verfolgt." Der dritte Satz war ein Zitat von Thomas Mann: „Eine schädliche Wahrheit ist besser als eine nützliche Lüge."

„Damit war es geschehen. Als ich geendet hatte, applaudierte die nichtkommunistische Hälfte der Zuhörerschaft, während die Kommunisten – zum größten Teil mit untergeschlagenen Armen – in bedeutungsschwerem Schweigen verharrten (…) Einige Tage später erklärte ich dem Zentralkomitee schriftlich meinen Austritt aus der Partei (…)

Mein Schreiben war ein Abschiedsbrief an die KPD, die Komintern und das Regime Djugaschwilis – aber es schloß mit einer Loyalitätserklärung an die Sowjetunion. Dieser Schwebezustand dauerte für mich bis zu dem Tag, an dem zu Ehren Ribbentrops die Hakenkreuzfahne auf dem Moskauer Flugplatz gehißt wurde und die Kapelle der Roten Armee das Horst-Wessel-Lied anstimmte. Damit war es Schluß; von nun an war es mir wirklich egal, ob mich die neuen Verbündeten Hitlers einen Konterrevolutionär schimpften.“

Seine Abrechnung mit dem Kommunismus vollzog Koestler in dem Buch Sonnenfinsternis, das 1940 in England erschien und ein internationaler Bestseller wurde. Die Hauptfigur dieses Romans, inspiriert von alten Bolschewiki wie Nikolai Bucharin und Karl Radek, die Opfer der Moskauer Prozesse wurden, personifiziert die willenlose Unterwerfung des Individuums unter die mörderische politische Maschinerie des Totalitarismus.

„Wenn wir aber die Geschichte überblicken und die großen Ziele, in deren Namen Revolutionen begonnen wurden, mit dem jämmerlichen Ende vergleichen, das ihnen beschieden war, müssen wir immer wieder feststellen, daß eine korrupte Gesellschaft auch ihre eigene revolutionäre Brut korrumpiert.“
  



Zitate aus: Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, Ignazio Silone, Andre Gide, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender, schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Mit einer Einführung von Prof. Wolfgang Leonhard und einem Vorwort von Richard Crossman, Erstauflage 1950) Zürich 2005 (Europa Verlag AG)



Donnerstag, 17. September 2015

Arthur Koestler und der Kommunismus - Teil 1

Arthur Koestler wurde am 5. September 1905 in Budapest geboren. Im Jahr 1919 zog er mit seiner Familie nach Wien und studierte dort ab 1922 Ingenieurwissenschaften, parallel dazu aber auch Philosophie und Literaturwissenschaft. 1930 zog er nach Berlin, wo er stellvertretender Chefredakteur der B.Z. am Mittag wurde und als außenpolitischer Redakteur arbeitete. Im selben Jahr trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei, ohne es bekanntzugeben.

In dem Buch „Ein Gott, der keiner war“ (Erstauflage 1950) beschreibt Arthur Koestler – zusammen mit fünf weiteren Intellektuellen - die Fahrt in den Kommunismus und die Rückkehr aus ihm. Gemeinsam ist ihrem Zeugnis, dass alle den Kommunismus anfänglich als eine Vision des Reiches Gottes auf Erden sahen - genau so wie ihre Vorgänger vor 130 Jahren die französische Revolution. Sie ließen sich nicht durch Zurechtweisungen der Berufsrevolutionäre oder durch die spöttischen Bemerkungen ihrer Gegner entmutigen, „bis jeder von ihnen die Kluft entdeckte, die zwischen seiner eigenen Vision von Gott und der Wirklichkeit des kommunistischen Staates klaffte – und der Gewissenskonflikt erreichte seinen kritischen Punkt.“

Nach seinem Eintritt in die KPD kann Koestler noch seine absolute Ergebenheit der Partei gegenüber unter Beweis stellen: „Die Partei war sowohl moralisch als auch logisch unfehlbar; moralisch, weil ihre Ziele richtig waren, d. h. der Dialektik der Geschichte entsprachen, und diese Ziele rechtfertigten alle Mittel; logisch andererseits, weil die Partei die Vorhut des Proletariats war und das Proletariat die Verkörperung des aktiven Prinzips in der Geschichte darstellte.“

Eine besondere Eigenart des damaligen Parteilebens, mit der Koestler zu kämpfen hatte, war der Proletenkult und die Verachtung der Intellektuellen: „Wir kommunistischen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft waren in der Partei geduldet, aber wenig geschätzt; und diese Tatsache wurde uns Tag und Nacht unter die Nase gerieben. Wir wurden geduldet, weil Lenin es so gewollt hatte und weil Sowjetrussland nicht ohne die Arzte, Ingenieure und Wissenschaftler der vorrevolutionären Intelligenz und ohne die verhassten ausländischen Spezialisten auskommen konnte. Aber es wurde uns nicht mehr Vertrauen und Respekt entgegengebracht als der Kategorie „nützlicher" Juden im Dritten Reich, die man mit besonderen Armbinden versah, damit sie nicht durch ein Versehen in die Gaskammern geschoben wurden, ehe ihre Nützlichkeitsspanne abgelaufen war.“

Der ideale Proletarier war stets breitschultrig, mit einem offenen Gesicht und einfachen Zügen dargestellt, so Koestler. „Er hatte ein vollentwickeltes Klassenbewußtsein und einen wohlbeherrschten Sexualtrieb; er war stark und schweigsam, warmherzig, aber wenn nötig auch hart; er hatte große Füße, schwielige Hände und eine tiefe Stimme, mit der er revolutionäre Lieder sang.“


Ideale Proletarier

Proletarier, die nicht Kommunisten waren, waren keine echten Proletarier. Aber auch ein Angehöriger der Intelligenz konnte niemals ein richtiger Proletarier werden, aber es war seine Pflicht, sich soweit wie möglich darum zu bemühen: „Einige versuchten es, indem sie auf die Krawatte verzichteten, Rollkragenpullover und schwarze Ränder an den Fingernägeln trugen. Das wurde jedoch verurteilt; es war Snobismus und Hochstapelei. Der richtige Weg bestand darin, nichts zu schreiben, zu sagen oder vor allem zu denken, was nicht jeder Müllkutscher verstehen konnte. Wir warfen wie Passagiere auf einem sinkenden Schiff alles geistige Gepäck fort, bis es auf das unbedingt erforderliche Minimum an gängigen Phrasen, dialektischen Klischees und marxistischen Zitaten zusammengeschrumpft war (…). Das verwerfliche Privileg, eine bürgerliche Erziehung genossen zu haben, die Fähigkeit, einem Problem mehr als eine Seite abgewinnen zu können, wurde zum Anlass ständiger Selbstvorwürfe.

Die Weimarer Republik ging schon bald ihrem Ende entgegen, aber die Kommunisten „lebten in einem Nebel dialektischer Trugbilder, die uns die Welt der Wirklichkeit verbargen. Die Faschisten waren natürlich Bestien, doch unsere Hauptsorge galt den trotzkistischen Ketzern und sozialistischen Schismatikern. Im „Roten Volksentscheid" von 1931 hatten Kommunisten und Nationalsozialisten in trauter Gemeinschaft gegen die sozialdemokratische preußische Regierung gestimmt; 1932 reichten sie sich beim Berliner Transportarbeiterstreik wieder die Hand. Heinz Neumann, der glänzende junge KPD-Führer, der die Losung „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft" geprägt hatte, fiel in Ungnade, um etwas später in Rußland liquidiert zu werden, und die Parteilinie zuckte ratlos hin und her in den Vorwehen des Stalin-Hitler-Paktes. Doch die Partei hatte verkündet, daß dieses Jahr 1932 den Triumph der proletarischen Revolution in Deutschland bringen würde; und da wir den wahren Glauben hatten, der göttliche Verheißungen nicht mehr ganz ernst nimmt, waren wir alle fröhlich und wohlgemut.“

KPD-Plakat (1932)
Dennoch verlor die KPD den Kampf gegen den Faschismus: „Wir glaubten, die Angler zu sein, in Wirklichkeit waren wir bloß der Köder am Haken. Das wurde uns nicht bewußt, weil unser ganzes Denken darauf trainiert worden war, jede noch so absurde Parole der Partei als Ausdruck unserer eigensten Wünsche und Überzeugungen hinzunehmen. Der Glaube ist ein wundersames Ding: er kann nicht nur Berge versetzen, er kann den Gläubigen auch überzeugen, daß ein Hering ein Rennpferd ist.“

Es ist ein Grundgesetz der kommunistischen Disziplin, daß jede Kritik an einem Parteibeschluß, sobald dieser gefasst ist, als abweichlerische Sabotage anzusehen ist. Rein theoretisch wäre es nur vernünftig, vor einer Entscheidung über diese zu diskutieren. Da aber alle Entscheidungen von oben herab getroffen werden, gleichsam aus dem blauen Himmel, ohne daß irgendeine Körperschaft der Mitgliedermassen befragt würde, sind die Massen jeden Einflusses auf die Politik der Führung beraubt und sogar der Möglichkeit, ihre Meinung darüber auszudrücken.

Eine der Losungen in der KPD lautete: `An der Front wird nicht diskutiert.´ Eine andere besagte: `Wo immer ein Kommunist sein mag, er ist immer an der Front.´

„Dementsprechend zeichneten sich unsere Diskussionen stets durch völlige Einstimmigkeit der Ansichten aus, und ihr Verlauf war, daß ein Zellenmitglied nach dem anderen aufstand und in gutem Djugaschwilesisch zustimmende Variationen zu dem vom Referenten angeschlagenen Thema vortrug.“

Weitere Risse bekam Koestlers kommunistisches Weltbild angesichts der dialektischen Akrobatik der KPD-Kader: „Was ist der Unterschied zwischen einer Pistole in der Hand eines Polizisten und einer Pistole in der Hand eines Mitglieds der revolutionären Arbeiterklasse? Der Unterschied zwischen einer Pistole in der Hand eines Polizisten und einer Pistole in der Hand eines Mitglieds der revolutionären Arbeiterklasse ist, daß der Polizist ein Lakai der herrschenden Klasse und seine Pistole somit ein Werkzeug der Unterdrückung ist, während dieselbe Pistole in der Hand eines Revolutionärs ein Mittel zur Befreiung der unterdrückten Massen wird.“

Dasselbe gelte für den Unterschied zwischen der sogenannten „bürgerlichen“ Moral und der „proletarischen“ Moral. Die Institution der Ehe, die in der kapitalistischen Gesellschaft lediglich die Verrottung der bürgerlichen Moral widerspiegelt, würde in einer gesunden proletarischen Gesellschaft durch einen dialektischen Funktionswechsel verwandelt. „Hast du das verstanden, Genosse, oder soll ich meine Antwort in konkreterer Form wiederholen?“

Hast du das verstanden, Genosse,
oder soll ich meine Antwort
in konkreterer Form wiederholen?
Das Muster der „Argumentation“ war klar und deutlich erkennbar – für denjenigen, der es erkennen wollte: „Wiederholungen in der Diktion, die Katechismustechnik, eine rhetorische Frage zu stellen und sie bis auf den letzten Buchstaben in der Antwort zu wiederholen; der Gebrauch von stereotypen Adjektiven und das Abtun aller unbequemen Meinungen und Tatsachen durch den einfachen Kniff, sie mit Anführungsstrichen zu versehen und auf diese Weise in einen ironischen Tonfall zu kleiden (die `revolutionäre´ Vergangenheit Trotzkis)…  – all das zusammen ergab jenen Stil, dessen unbestrittener Meister Josef Djugaschwili ist, und der allein schon durch seine Monotonie eine einschläfernde und hypnotische Wirkung erzeugte. Zwei Stunden dieses dialektischen Tam-Tams genügten, um einen vergessen zu lassen, ob man ein Männchen oder Weibchen war – man war dann bereit, das eine oder das andere zu glauben, sobald die falsche Alternative in ironischen Gänsefüßchen erschien. Man war ebenso auch zu glauben bereit, daß die Sozialdemokraten a) den Hauptfeind darstellten und b) natürliche Verbündete waren; daß die sozialistischen und kapitalistischen Länder a) friedlich nebeneinander leben und b) unmöglich friedlich nebeneinander leben konnten, und daß, als Engels schrieb, daß der „Sozialismus in einem Lande" unmöglich sei, er genau das Gegenteil gemeint hatte. 

Man lernte außerdem, mit Hilfe von Kettenschlüssen zu beweisen, daß jeder, der eine andere Meinung als die eigene vertrat, ein Agent des Faschismus war, weil er a) durch seine abweichlerischen Ansichten die Einheit der Partei gefährdete, b) durch diese Gefährdung der Parteieinheit die faschistischen Siegesaussichten erhöhte und daher c) `objektiv´ als Agent des Faschismus handelte, selbst wenn ihm die Faschisten `subjektiv´ in Dachau die Nieren zu Brei geschlagen haben sollten.“

Begriffe wie „Agent des ...", „Demokratie", „Freiheit" usw. hatten im Parteijargon schlicht eine völlig andere Bedeutung als im üblichen Sprachgebrauch.

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, Ignazio Silone, Andre Gide, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender, schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Mit einer Einführung von Prof. Wolfgang Leonhard und einem Vorwort von Richard Crossman, Erstauflage 1950) Zürich 2005 (Europa Verlag AG)




Donnerstag, 10. September 2015

Wolfgang Leonhard und das Anti-Communist-Forum in Kerala

Neun Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 wurden die Grenzen der indischen Bundesstaaten entsprechend den Sprachgrenzen im States Reorganisation Act  am 1. November 1956 neu gezogen. Einer der Bundesstaaten war Kerala.

Die ersten allgemeinen Wahlen in Kerala fanden 1957 statt. Aus ihnen ging die Communist Party of India (CPI) als Sieger hervor. Zum ersten Mal verlor die Kongreßpartei damit eine Wahl im unabhängigen Indien, zugleich konnte erstmals in der Geschichte eine kommunistische Partei freie und demokratische Wahlen für sich entscheiden.

Die demokratisch gewählte kommunistische Regierung in Kerala

In den ersten Wochen war die KP-Regierung noch populär, aber schon bald weckten das Bestreben, Staatsapparate und Justiz durch die eigene Parteiherrschaft zu ersetzen und in den Schulen sowjetische Lehrbücher einzuführen, sowie die zunehmende Bestechung und Korruption den Unwillen der Bevölkerung.

So schlossen sich seit dem Herbst 1957 die von der KP enttäuschten Mitglieder und Funktionäre zum »Ex-Communist-Forum" zusammen.

Schon im Juni 1959, knapp 2 Jahre nach der Wahl wurde schließlich das KP-Regime durch eine mächtige Volksbewegung – die in vielem an die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 in der DDR erinnerte – gestürzt. Die treibende politische Kraft waren die ehemaligen Kommunisten im „Ex-Communist-Forum", das nicht nur bei den Neuwahlen im Februar 1960, sondern im gesamten politischen Leben des Landes eine entscheidende Rolle spielte und spielen würde.

Wolfgang Leonhard (1921 - 2014)
Im Herbst 1960 veranstaltete das Forum einen internationalen Kongreß in Ernakulam im Bundesstaat Kerala, an dem Schriftsteller und Gesinnungsgenossen aus aller Welt, darunter auch Wolfgang Leonhard und der englische Dichter, Autor und Hochschullehrer Stephen Spender. In seiner Einführung zu dem Buch „Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, Ignazio Silone, Andre Gide, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender, schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr“ von André Gide (original 1950, neuaufgelegt 2005) berichtet Wolfgang Leonhard von diesem Treffen:

„Der Kongreß fand in einem riesigen, strohgedeckten Pfahlbau ohne Wände statt – sie wurden unter den klimatischen Bedingungen in Kerala nicht benötigt. 500 mit traditionellen weißen Umhängen bekleidete Keralesen waren im Saal versammelt, die Reden und Diskussionen wurden durch Lautsprecher in der Stadt übertragen. Stephen Spender und ich wurden mit stürmischem Beifall begrüßt und erhielten Ehrenplätze in der ersten Reihe.

Die Malayalam sprechenden Inder diskutierten in der sengenden Hitze über dieselben Probleme, die auch fast alle Ex-Kommunisten Europas beschäftigten: die Degeneration des Sowjet-Kommunismus und die Verwandlung des schöpferischen Marxismus in eine Sammlung toter Dogmen. Immer wieder wurde Kritik geübt: am Führerkult und Autoritätsaberglauben, an der Unterordnung der kommunistischen Partei unter die Sowjetführung, an der Niederschlagung der ungarischen Revolution, der Begrenzung des künstlerischen Lebens, an den unerträglichen Lobeshymnen auf die Sowjetunion. Kritisiert wurden – teilweise mit ironischen Bemerkungen – die ständigen Schwankungen der Parteilinie, der man immer wieder folgen mußte.

Die ehemalige britische Residenz in Ernakulam
All diese Punkte waren Stephen Spender und mir wohl bekannt, aber noch nie hatten wir erlebt, daß sie in so großem Rahmen erörtert wurden. So wie wir an den Diskussionen in Südindien interessiert waren, so waren die Kongreßteilnehmer an den Reformströmungen in anderen Ländern interessiert. Als Stephen Spender und ich über die kritischen, sich gegen die offizielle sowjetische Parteilinie stellenden Kommunisten in den Ländern West- und Osteuropas berichteten, wurde dies von den Anwesenden mit großem Beifall begrüßt.

Über den Kongreß berichteten die Zeitungen Keralas auf den Titelseiten, inklusive Bildern von Stephen Spender und mir, weshalb wir auf unseren Ausflügen überall erkannt wurden – so auch von einem katholischen Priester, der uns höflich begrüßte und die unerwartete Frage an uns richtete: „Wie geht es bei dem Kongreß der Ex-Kommunisten? Sind Sie mit dem Verlauf zufrieden?" Nach einer Woche mußten wir Kerala verlassen, da wir noch weitere Einladungen in Städten im Zentrum und Norden Indiens hatten, aber uns beiden tat es leid, uns von Kerala zu verabschieden – dem wohl einzigen Land der Welt, in dem Ex-Kommunisten nicht von Mißtrauen umgebene, isolierte Einzelgänger waren, sondern Angehörige einer im ganzen Land geachteten politischen Strömung.“

Das Thema des Kongresses lautete übrigens: „Die Rolle der Ex-Kommunisten im politischen Leben einer demokratischen Gesellschaft" …


Zitate aus:  Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, Ignazio Silone, Andre Gide, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender, schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Mit einer Einführung von Prof. Wolfgang Leonhard und einem Vorwort von Richard Crossman, Erstauflage 1950) Zürich 2005 (Europa Verlag AG)

Donnerstag, 3. September 2015

Die Französische Revolution und die Präferenz der besitzbürgerlichen Schichten



Die Revolution war immer die Sache einer Minderheit, 
die versuchte, eine Mehrheit für ihr Projekt zu gewinnen.
Das geschah stets mit Zwang, der Widerstand weckte, 
der mit einer Verschärfung des Zwangs beantwortet wurde.
Das setzte eine Eigendynamik und Selbstradikalisierung in Gang, 
die schließlich die Schreckensherrschaft hervorbrachte:
Die Revolution verschlang ihre eigenen Kinder. 
(Johannes Willms)


Die Französische Revolution (1789 bis 1799) gehört zweifelsohne zu den folgenreichsten Ereignissen der neuzeitlichen europäischen Geschichte. Die Abschaffung des feudalabsolutistischen Ständestaats sowie die Propagierung und Umsetzung grundlegender Werte und Ideen der Aufklärung – das betrifft insbesondere die Menschenrechte – waren mit die Ursache für tiefgreifende macht- und gesellschaftspolitische Veränderungen in ganz Europa und haben das moderne Demokratieverständnis entscheidend beeinflusst.

Es ist gleichwohl interessant festzustellen, dass das landläufige Bild der Französischen Revolution vor allem durch ihre erste Phase (1789–1791) geprägt ist. Sie stand im Zeichen des Kampfes für bürgerliche Freiheits­rechte und für die Schaffung einer konstitutionellen Monarchie.

Die zweite Phase der Revolution (1792-1794) dagegen wird von den Verehrern der Französischen Revolution gern übersehen oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt. Es ist aber vor allem diese zweite Phase, die das eigentliche Gesicht der Französischen Revolution offenbart, nämlich die Errichtung einer Republik mit radikaldemokratischen Zügen und die Ausbildung einer Revolutionsregierung, die mit Mitteln des Terrors und der Guillotine alle „Feinde der Revolution“ verfolgte.

In der dritten Phase, der Direktorialzeit von 1795 bis 1799, konnte dann wieder eine von besitzbürgerlichen Interessen bestimmte politische Führung die Macht ausüben, stets im Spannungsfeld zwischen Volksinitiativen für soziale Gleichheit einerseits und monarchistischen Restaurationsbestrebungen andererseits.

In seinem großen Werk über die Französische Revolution kommt Johannes Willms, langjähriger Feuilletonchef und Kulturkorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Paris, zu einem überraschenden Ergebnis, dass sich trotz aller revolutionären Rhetorik eine „für alle Stadien der Revolution gleichermaßen gültige Präferenz der besitzbürgerlichen Schichten“ nachweisen lässt. Eine bewusste Förderung des Kleinbesitzes, die der breiten Mehrheit der Bevölkerung zugute gekommen wäre, wurde durch die einschlägige „revolutionäre“ Gesetzgebung vereitelt. Eine konsequente „Abwicklung“ des Feudalwesens durch die Revolution kann daher nur ansatzweise behauptet werden.

Außerordentlich aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Frage des Kirchengesetzes. Nach Verstreichen einer gewissen Schamfrist hatte die Nationalversammlung mit dem Kirchenbesitz einfach kurzen Prozess gemacht: Die korporative Privilegierung des Klerus ließe sich mit der neuen Gesellschaft gleicher und freier Bürger nicht mehr in Einklang bringen; folglich waren auch dessen eigentumsrechtliche Ansprüche obsolet geworden und fielen damit der Verfügung der Nation anheim.

In der Nacht vom 4. auf den 5. August 1789 die Abschaffung der grundherrlichen Rechte (Gerichtsbarkeit, Jagdrecht, Bannrecht) beschlossen. In der von revolutionärer Begeisterung getragenen Sitzung wurden darüber hinaus die Ämterkäuflichkeit, der Kirchenzehnte, die Zünfte und Innungen sowie die Privilegien von Provinzen und Einzelpersonen abgeschafft. Dies war der endgültige Bruch mit dem Ancien Régime.

Dieser Logik folgend hätte die Nationalversammlung auch alle „feudalen“ Privilegien und Ansprüche, wie in den Beschlüssen des 4. August 1789 vollmundig verkündet, ohne alle Umstände beseitigen müssen. Wie wenig davon aber die Rede sein konnte, so Johannes Willms in seinem Buch, zeigte sich erst, „als die Nationalversammlung daran ging, ihre Absichtserklärungen vom 4. bis 11. August in Gesetzestexten zu kodifizieren. Dabei versagte man sich jene Pauschalität, die es erlaubt hatte, den Kirchenbesitz zu zerfleddern. Jetzt galt es genau zwischen «feudalen» Privilegien und legitimen Eigentumsrechten zu unterscheiden. Jene wurden einfach beseitigt, diese peinlich respektiert.“

 “La nuit du 4 aout
(Ende 18. Jahrhundert, von Isidore-Stanislas Helman, 1732–1809/10,
nach Zeichnung von Charles Monnet, 1732 – um 1816)

Die Besitzbürger unter den Deputierten, die Eigentümer eines ehemaligen Lehens waren, sahen es als selbstverständlich an, dass sie oder ihre Vorfahren dieses mit allen „Feudalrechten“ erworben hatten und es deshalb in ganzem Umfang ihr legitimes Eigentum war. Das war die Quintessenz jener Gesetzesvorlage, die der am 9. Oktober 1789 eingesetzte dreißigköpfige Comité des droits féodaux ausgearbeitet hatte und die nach ausführlicher Debatte am 15. März 1790 verabschiedet wurde.

Dieses Komitee erfand eine mythische Deutung der historischen Ursprünge des Feudalwesens, die es erlaubten, zwei Arten von Rechten zu unterscheiden. Das Wesen des Feudalismus als eine durch persönliche Bindung vermittelte Herrschaftswillkür wurde schlichtweg in ein Vertragsverhältnis umgedeutet: Der Seigneur hatte seinem Vasallen Schutz und Arbeit verschafft, der ihm dafür zu unentgeltlichen Diensten und Abgaben verpflichtet gewesen war. Diese Rechte und Pflichten waren spätestens mit dem Landfrieden des Absolutismus erledigt und konnten, sofern sie noch Bestand hatten, entschädigungslos beseitigt werden.

Ganz anders verhielt es sich mit den realen Rechten, die als Pachtzahlungen auf Ländereien eingefordert wurden, die dem, der sie bewirtschaftete, lediglich in Konzession überlassen worden waren. Diese Pflichten und Abgaben, die zwar auch in aller Regel einen «feudalen» Anstrich hatten, wurden als vertragsrechtliche Vereinbarungen angesehen, die fraglos erfüllt werden mussten, zumal sie im Geldwert des jeweiligen Eigentums an Grund und Boden eingeschlossen waren. Kurz, völlig gleichgültig, ob der Grundbesitzer ein Seigneur oder ein Bürger war, der Pächter oder Bauer einstmals ein Leibeigener gewesen war oder ob Besitztitel vorhanden waren, galten diese Pflichten und Abgaben nach Artikel 17 der Menschen- und Bürgerrechte als eigentumsrechtliche Ansprüche, die nur gegen eine angemessene Entschädigung abgelöst werden konnten.“

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 17:
Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem genommen werden, es sei denn, dass die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit dies eindeutig erfordert und vorher eine gerechte Entschädigung festgelegt wird.
Dank dieser vertragsrechtlichen Rabulistik wurden zwar die meisten „feudalen“ Ansprüche mit dem am 15. März 1790 verabschiedeten Gesetz beseitigt, von denen viele sowieso schon verschwunden waren. Aber es blieben jene in Geltung, die für den Grundeigentümer besonders ertragreich waren. Das galt namentlich für Geldzahlungen oder für bestimmte Naturalabgaben, die auf Ernteerträge fällig wurde.

„Außerdem wurden auch die verhassten banalités, also die Monopole der Grundherren auf Mühlen, Backöfen oder Weinkeltern, die ursprünglich entschädigungslos fortfallen sollten, vertragsrechtlich gerechtfertigt. Alle diese auf angeblichen Verträgen basierenden Zahlungen wurden für ablösbar erklärt. Die genauen Bedingungen dafür wurden durch ein eigenes Gesetz vom 3. Mai 1790 geregelt. Der Betrag für die Entschädigung von Geldzahlungen wurde mit dem Zwanzigfachen der jährlich eingeforderten Summe festgesetzt, während für Naturalabgaben das Fünfundzwanzigfache des Ernteertrags im Mittel der letzten fünfzehn Jahre fällig wurden. Alle Entschädigungen mussten en bloc geleistet werden. Außerdem war die vorherige Erstattung aller noch ausstehenden Abgaben erforderlich.

Wegen dieser Bedingungen vereitelte das Gesetz praktisch, was es theoretisch ermöglichen sollte, denn kein Bauer oder Pächter hatte das Geld oder den Kredit für die geforderten Summen. So wurden die Versprechungen des 4. August 1789 mit den Interessen der Landbesitzer in Einklang gebracht, für die die Renteneinkünfte aus diesem Eigentum einen ganz wesentlichen Teil ihres Einkommens und Vermögens ausmachten. Dass allein mit diesem Aspekt des „Feudalwesens“ sich drei Gesetzgebende Versammlungen – die Verfassunggebende Versammlung, die Legislative und der Konvent – abmühten und weit über hundert Dekrete, Novellierungen, Zusätze und Kommentare zu diesen Gesetzen verabschiedeten, hat einen einfachen Grund: Die meisten Mitglieder dieser Versammlungen waren ländliche Grundbesitzer, die sich scheuten, ihre eigenen Interessen für Prinzipien aufzuopfern, die sie selbst entwickelt hatten.“

So kommt Willms zu dem abschließenden Urteil, dass die Schicht der bourgeoisen Landbesitzer – aus der auch noch die Notabeln der Juli-Revolution von 1830 entstammten – ihren Einfluss über alle Phasen der Revolution hinweg behaupten konnte. „Sie war von Anfang bis Ende und darüber hinaus deren eigentlicher Gewinner. Eben darin sah Hippolyte Taine, einer der großen Kritiker der Französischen Revolution, deren Wesen und Ertrag: `Was auch immer die großen Worte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bedeuten mögen, mit denen sich die Revolution schmückte, so ist sie ihrem inneren Wesen nach eine Vermögensumwälzung. Diese verschaffte ihr den inneren Halt, ihre fortdauernde Kraft, ihren wichtigsten Antrieb und ihre historische Bedeutung´“.
  
Zitate aus: Johannes Willms, Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution, München 2014 (C.H.Beck)  -  Hippolyte Taine: Les origines de la France contemporaine, Paris 1877