Donnerstag, 19. Dezember 2013

Sascha Tamm und die Sündensteuern

In letzter Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass immer mehr Staatsführungen in den westlichen Demokratien sich zunehmend selbst als Super Super Nanny sehen und auch dementsprechend von den Bürgerinnen und Bürgern als Super Super Nanny wahrgenommen, verehrt und geliebt werden wollen.

Für Horst Wolfgang Boger, Herausgeber des Sammelbandes „Der Staat als Super Super Nanny“ jedenfalls steht fest: „Unser Staat sieht gut aus, unser Staat ist super-empathisch, unser Staat ist super-sympathisch, unser Staat denkt niemals an sich selbst, unser Staat weiß auf alles die richtige Antwort, unser Staat ist fast göttinnengleich."

Ein besonders gutes Beispiel sind die „Sündensteuern“, mit denen sich Sascha Tamm in dem erwähnten Buch beschäftigt.

Die Super Super Nanny weiß, was gut für Dich ist!
Wir alle kennen die gutgemeinten Ratschläge: „Du sollst nicht rauchen, du sollst dich nicht an Glücksspielen beteiligen, du sollst dich nicht an alkoholischen Getränken berauschen. Sicher ließen sich noch einige andere Sünden nennen, die von vielen Menschen als schädlich angesehen werden.“

Während früher bestimmte Handlungen aus einer religiösen Perspektive als Sünden bezeichnet wurden, sind es heute eher Wissenschaftler und Politiker, die bestimmte Handlungen als gefährlich oder schädlich definieren. Statt jedoch mit Teufel und Höllenfeuer zu drohen, erhebt der Staat – zusätzlich zum Verbot bestimmter Handlungen oder Aktivitäten – sogenannte Sündensteuern, um die potentiellen Sünder an bestimmten Handlungen zu hindern – oder doch wenigstens ihre Häufigkeit zu verringern.

Die bekanntesten Beispiele für diese Sündensteuern sind Tabaksteuer und die die Branntweinsteuer (einschließlich der Alkopopsteuer):

„Unabhängig von der Bezeichnung sind überall auf der Welt die Argumente, die von den Befürwortern derartiger Steuern verwendet werden, sehr ähnlich. Sündensteuern werden auf den Kauf von bestimmten Waren oder Dienstleistungen erhoben, deren Nutzung als nicht erwünscht gilt. Der Staat will damit, so wird jedenfalls argumentiert, die Bürger vor den negativen Folgen des Konsums schützen.“

Dabei muss unterschieden werden zwischen zwei Typen von Sündensteuern. Im ersten Fall soll die Gesamtheit oder eine bestimmte Gruppe von Menschen vor den Folgen des Handelns anderer geschützt werden, wie das Beispiel der Mineralölsteuer zeigt: Hier ist „eine spezielle Handlung, also das Autofahren, oder genauer gesagt der Verbrauch von Benzin und die damit verbundene Umweltverschmutzung, nicht erwünscht und wird durch die Erhebung der Steuern sanktioniert. In diesem Fall lassen sich externe Effekte benennen, wie etwa die Umweltverschmutzung und die damit verbundene Schädigung anderer, die zur Legitimation der Steuern herangezogen werden können.“

Rauchen ist eine Sünde !

Im zweiten Fall sollen die Menschen davon abhalten werden, sich selbst zu schaden, also wenn z.B. „Raucher, Spieler, Trinker oder – wie für die Zukunft nicht auszuschließen ist – die Anhänger von fetten oder süßen Speisen vor sich selbst geschützt werden sollen.“

Hier handelt es sich um Sündensteuern im engeren Sinne. „Sie werden unterstützt von einer breiten Propaganda gegen bestimmte Verhaltensweisen, die sich auf wissenschaftliche Aussagen über die Schädlichkeit verschiedener Verhaltensweisen beruft.“

Nun ist die Frage, ob ein Staat wirklich berechtigt ist, Sündensteuern zu erheben. Sorgt er damit wirklich für das das Wohl seiner Bürger? Darf der Staat ein Verhalten sanktionieren, das vor allem dem Handelnden selbst schadet – oder von dem zumindest behauptet wird, dass es ihm schade?

Es gehört selbstverständlich zu der Kernaufgabe des Staates, Handlungen zu verhindern oder zu bestrafen, die andere schädigen. Aus liberaler Perspektive jedoch, „die sich strikt an dem Vorrang des Schutzes von Freiheit und Eigentum jedes einzelnen Menschen orientiert, sind Sündensteuern nicht zu legitimieren. Sie widersprechen nicht nur dem Prinzip einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, sondern haben zum Ziel, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzuzwingen oder doch wenigstens starke Anreize für ein bestimmtes Verhalten zu setzen.“ Letztlich maßt sich der Staat an, ein größeres Wissen als seine Bürger zu besitzen für die Suche nach Glück oder für die besten Verwendungsmöglichkeiten ihres Eigentums.
 
Die Super Super Nanny und der Zwang zu einem bestimmten Lebensstil

Natürlich darf es private Initiativen geben, die Aufklärungsarbeit über die Folgen des Rauchens leisten können. Natürlich wird nicht behauptet, dass es vernünftig oder sinnvoll ist zu rauchen. Natürlich darf eine öffentliche Debatte zum Rauchen oder zum Alkoholgenuss oder zum Glücksspiel stattfinden – gerade weil sich Urteilsvermögen und Entscheidungsfähigkeit sich vornehmlich in dieser Debatte entwickeln.

Doch all dies ist für die politische Diskussion irrelevant: „Das Recht, sich selbst zu schädigen oder etwas zu tun, was alle anderen für voll kommen unsinnig und falsch halten, gehört zum Kern des Liberalismus“

Die Durchsetzung bestimmter Werturteile mit staatlicher Zwangsgewalt entwertet ja gerade individuelle Urteile und öffentliche Debatten. „Gerade diejenigen, für die Werturteile und moralische Prinzipien große Bedeutung haben und die selbst über starke Überzeugungen verfügen, müssen deren staatliche Durchsetzung strikt ablehnen, weil sie durch sie entwertet werden.“

Staatliches Handeln ist also nur dann legitimiert, wenn durch eben dieses Handeln die Einen daran gehindert werden, die Anderen in ihren Freiheitsrechten einzuschränken oder ihnen auf andere Weise Schaden zuzufügen. Dies wiederum soll in einer Weise geschehen, dass das staatliche Handeln wiederum die Freiheitsrechte aller so wenig wie möglich eingeschränkt. Das trifft auf Sündensteuern nicht zu:

„Hier wird in ganz individuelle Entscheidungen eingegriffen, die andere nicht betreffen. Die negativen Folgen für eine freiheitliche Ordnung sind groß. Indem der Staat versucht, das Handeln der Menschen zu steuern, nimmt er ihnen etwas von ihrer Verantwortung. Er nimmt ihnen Entscheidungen ab (oder beeinflusst sie doch in eine bestimmte Richtung). Damit leistet er einer Tendenz Vorschub, die in modernen Wohlfahrtsstaaten selbstzerstörerisch wirkt: Die Menschen vertrauen ihrem eigenen Urteilsvermögen, ihren eigenen Entscheidungen immer weniger.“

Das Beispiel der Sündensteuern demonstriert auf einfache Weise, wie staatliches Handeln von individuellen Entscheidungen entwöhnt.

Ein weiteres Argument, das von den Verteidigern der Sündensteuern immer wieder ins Feld gebracht wird, betrifft die externe Effekte der sündigen Handlungen, die es zu kompensieren gilt: „So werden z.B. im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Folgen des Rauchens oft auch die Kostenbelastung für das Gesundheitssystem oder die volkswirtschaftliche Belastung durch den Arbeitsausfall genannt.“

Zielwiderspruch: Je weniger Sünder, desto geringer die Staatseinnahmen.
Diese Argumentation enthält gleichwohl einen unauflösbaren Zielwiderspruch: „Einerseits soll ein bestimmtes Konsumverhalten sanktioniert werden. Das Ziel besteht also darin, etwa den Tabakkonsum zu reduzieren. Dem gegenüber steht das Interesse des Staates an der Maximierung der Einnahmen aus den Sündensteuern. Die Sündensteuern leisten z.B. in Deutschland einen relevanten Beitrag zur Finanzierung des Staatshaushaltes (…) Wenn also die Bürger weniger „sündigen“, sinken die Staatseinnahmen.“

Wenn also das vorrangige Ziel der Sündensteuern darin besteht, Kosten zu verringern, dann muss diese Argumentationsschiene auch konsequent zu Ende geführt werden: Wenn wir also davon ausgehen, dass Raucher über ihre Lebenszeit hinweg höhere Kosten im Gesundheitswesen verursachen, dann stellen sich mindestens zwei Fragen:

„1. Entstehen vielleicht durch Raucher an anderer Stelle geringere Kosten, so z.B. im Rentensystem? 2. Liegt das wesentliche Problem nicht darin, dass unser staatliches Gesundheitssystem (vermeidbare) Risiken nicht dem Einzelnen zuordnet, sondern allen Versicherten und außerdem allen Steuerzahlern? Die Antwort auf beide Fragen lautet „Ja“. Dass z.B. Raucher eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung als Nichtraucher haben, ist in der Wissenschaft allgemein anerkannt. Sie erhalten also, bei ansonsten gleichen Parametern, geringere Auszahlungen aus der Rentenkasse als Nichtraucher.“

Die Antwort auf die zweite Frage könnte darin bestehen, dass sich in einem an individualisierten (privaten) Versicherungen orientierten System ohne Zweifel Bewertungen für bestimmte systematische Gesundheitsrisiken ergeben würden. Das gilt selbstverständlich nur bei den Risiken, die allein vom Verhalten des Einzelnen abhängen, also nicht etwa bei Erbkrankheiten.

Auf diese Weise gäbe es durchaus finanzielle Anreize, die bestimmte Konsumgewohnheiten sanktionieren bzw. belohnen.

Solange Menschen „für die Risiken, die mit ihren eigenen Handlungen verbunden sind, nicht oder jedenfalls nicht vollständig aufkommen müssen, wenn also die Risiken nicht mit dem richtigen Preisschild versehen sind, so werden viele Menschen übergroße Risiken auf sich nehmen, die dann im aktuellen System von allen getragen werden müssen. Es geht wohlgemerkt nur um die finanziellen Risiken – das erhöhte Krankheits- und Todesrisiko hat ohnehin jeder selbst zu tragen.“

Entscheidend ist, dass sich hier der Staat nicht einmischen darf: „Es ist durchaus legitim, dass Menschen den Genuss des Rauchens höher einschätzen als ein paar zusätzliche Lebensjahre (…) Irgendetwas anderes vorauszusetzen würde heißen, dass der einzelne Mensch in irgendeiner Weise Eigentum der anderen Menschen oder des Staates ist.“
  

Zitate aus: Sascha Tamm: Sündensteuern, in: Horst Wolfgang Boger (Hg.): Der Staat als Super Super Nanny, Berlin 2008 (liberal Verlag GmbH), S. 105ff.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Horst Wolfgang Boger und der Staat als Super Super Nanny

"Die Super Nanny" war eine Sendung des TV-Senders RTL, in der die Diplom Pädagogin Katharina Saalfrank Familien in Erziehungsfragen beriet. Das Originalformat stammt aus Großbritannien. In Deutschland lief die Sendung seit der Erstausstrahlung am 19. September 2004 bis ins Jahr 2011.

Jede Sendung verlief nach dem gleichen Grundmuster: „Die Super Nanny Katia Saalfrank, besucht Familien in Not, sie bleibt einige Tage, spricht system-pädagogische Sätze (was immer genau das heißen mag), die wahre und vor allem nachhaltige Wunder wirken, und sucht dann die nächste Familie in ihrem Heim auf.

“Off with her head“ (John Tennier - "Alice im Wunderland")
Die Super Nanny sieht gut aus, die Super Nanny ist super-empathisch, die Super Nanny ist super-sympathisch, die Super Nanny denkt niemals an sich selbst, die Super Nanny weiß auf alles die richtige Antwort, die Super Nanny ist fast göttinnengleich.“ In dem Sammelband von Horst Wolfgang Boger wird die Idee der Super Super Nanny nun von der Pädagogik auf die Politik, genauer auf den Staat übertragen.

Boger stellt fest: „Keine Frage: Unser Staat, genauer: die Staatsführung samt dem bürokratisch-administrativen Appendix, sieht sich selbst als Super Nanny und möchte dementsprechend auch von den Bürgerinnen und Bürgern als Super Nanny wahrgenommen, verehrt und geliebt werden. Unser Staat sieht gut aus, unser Staat ist super-empathisch, unser Staat ist super-sympathisch, unser Staat denkt niemals an sich selbst, unser Staat weiß auf alles die richtige Antwort, unser Staat ist fast göttinnengleich.“

Nach Boger unterscheidet sich der Staat in mindestens zwei Punkten erheblich von der Super Nanny. Während, erstens, die Super Nanny nur einige Tage bleibt, schenkt uns der Staat „von der Wiege bis zur Bahre“ nicht nur Formulare, sondern bleibt uns als Beraterin, als Erzieherin, vor allem aber als (teuer entlohnte) Vormündin erhalten. Seine prätendierten fachlichen Kompetenzen nehmen zu, seine juridischen ebenso.

Der Staat als Super Super Nanny

Die Super Nanny kann, zweitens, ihre segensreiche Wirkung nur dann entfalten, wenn die Familie in Not ihr Einlass gewährt, unser Staat dagegen sagt wie der Igel zum Hasen „Ick bün al dor!“, womit er völlig recht hat. Denn der Staat ist immer schon da und dies an immer mehr Orten.“

Für Boger ist die staatliche Super Nanny also eher eine „Super Super Nanny.
  • Sie sagt uns, wie wir zu denken, zu sprechen und zu forschen haben.
  • Sie sagt uns, was wir fragen und nicht fragen dürfen.
  • Sie sagt uns, wie wir uns zu ernähren und zu bewegen haben.
  • Sie wacht darüber, dass wir niemanden bevorzugen oder benachteiligen.
  • Sie achtet darauf, dass auf allen Hierarchie-Ebenen, vorzugsweise den oberen, strengste Geschlechterdemokratie obwaltet.
  • Sie sagt schließlich den Schampus-, Zigarren-, Musik-, Kino- oder Tanzsündern, dass sie sich durch Ablasszahlungen (einfühlsam und system-pädagogisch „Steuern“ genannt) ihrer Schuld entledigen können – und müssen.“
Die Folgen ...
Natürlich könne sogar eine Super Super Nanny all diese Aufgaben nicht allein bewältigen. Die notwendige Unterstützung erhält der Staat daher von eifrigen Nichtregierungsorganisationen, „die wie Super-Musterkinder unablässig und unermüdlich supererogatorische Leistungen erbringen, indem sie uns unablässig darauf hinweisen, dass mehr als 1 mg Acrylamid (pro Kilogramm) in Knäckebrot, Pommes Frites, Lebkuchen, Kartoffelchips und Kaffee enthalten sind, indem sie uns sagen, was genau wir in unsere Einkaufswagen packen und packen sollen, aus welchen Hölzern unsere Bleistifte zu bestehen haben, und darüber wachen, dass wir genügend Dihydrogenmonoxid zu uns nehmen (auch wenn wir keinen Durst haben), und darauf acht geben, dass unsere Sprache weder patriarchalistisch, sexistisch, ethnizistisch, eurozentrisch noch militaristisch ist.“


Im Gegenzug bekämen diese Super-Musterschüler „viele Gutpunkte und vor allem viel Geld aus dem Portemonnaie der Super Super Nanny, Geld, das allerdings nicht von der Bank, sondern aus den Portemonnaies von uns Dauermündeln stammt.“

Das Erschreckende ist dabei, dass ein großer Teil der Dauermündel sich durchaus wohl zu fühlen scheint. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das schon Immanuel Kant vor mehr als 220 Jahren konstatiert hatte:

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

Immanuel Kant
Daß der bei weitem größte Teil der Menschen ... den Schritt zur Mündigkeit, außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen.

Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einige Mal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.“

Natürlich konnte Immanuel Kant die Super Nanny noch nicht kennen Die Frage ist aber: „Wollen und sollen wir tatsächlich hinter Kant zurück fallen?“


Zitate aus: Horst Wolfgang Boger (Hg.): Der Staat als Super Super Nanny, Berlin 2008 (liberal Verlag GmbH) - Weitere Literatur: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Immanuel Kant: Was ist Aufklärung. Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1994 (Vandenhoeck und Ruprecht), S. 55-61.



Donnerstag, 5. Dezember 2013

Paul Feyerabend und die freie Gesellschaft

Paul Feyerabend (1924 - 1994)
Kaum ein Philosoph des späten 20. Jahrhunderts hat mehr provoziert und mehr Kontroversen ausgelöst als Paul Feyerabend. Mit seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang (1975) forderte er das traditionelle Wissenschaftsverständnis heraus, indem er alle Methoden der Erkenntnisgewinnung, einschließlich der nicht-wissenschaftlichen, für gleichermaßen legitim, erklärte.

Feyerabend trat aber nicht nur für einen Pluralismus der Methoden, sondern auch für eine gleichberechtigte Vielfalt von Weltdeutungen ein. Jede kulturelle Tradition sollte gleichen Zugang zu den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen haben. Mit seiner These Anything goes schuf er einen bekannten Slogan, der auch in der Philosophie der Postmoderne aufgegriffen wurde.

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand stets das reife und mündige Individuum in einer freien Gesellschaft. In seinem Buch Erkenntnis für freie Menschen (1979) wendet sich Feyerabend nicht nur gegen das Denken in Kollektiven, sondern er warnt auch vor einer Entmündigung des Bürgers durch die Herrschaft der so genannten wissenschaftlichen Experten.

Vielfalt als Anything goes - eine nicht immer unproblematische Aussage

Feyerabend geht davon aus, dass in einer freien Gesellschaft jeder Mensch das Recht hat, zu lesen, zu schreiben und zu verteidigen, was immer er für gut hält. Er ist nicht nur für sein Denken, sondern gleichermaßen auch für sein Tun selbst verantwortlich: „Erkrankt ein Mensch, dann sollte er das Recht haben, nach seinen eigenen Wünschen behandelt zu werden, von Handauflegern, wenn er an das Handauflegen glaubt, von wissenschaftlichen Ärzten, wenn er der Wissenschaft größeres Vertrauen schenkt.“

Aber der Bürger habe nicht nur das Recht, seine eigenen Ideen zu haben, sondern er kann auch Vereine gründen, die seinen Standpunkt unterstützen. „Dieses Recht kommt dem Bürger aus zwei Gründen zu; erstens, weil jeder Mensch die Möglichkeiten haben muss, das zu verfolgen, was er für die Wahrheit und das richtige Verfahren hält; und zweitens, weil allein die Untersuchung und der Betrieb von Alternativen die Grenzen dessen ermitteln können, was man allgemein für die Wahrheit hält. Diese Gründe wurden von Mill in seinem unsterblichen Essay On Liberty erklärt. Es ist nicht möglich, seiner Argumente zu verbessern.“

Eine freie Gesellschaft sei eben eine Versammlung reifer Menschen und nicht eine Herde von Schafen, geführt von einer kleinen Gruppe von Besserwissern. Aber Reife liege auch nicht auf der Straße herum, sondern man muss sie lernen


Diese Reife lerne man, so Feyerabend weiter, wohl kaum in der Schule, sondern nur durch aktive Teilnahme an Entscheidungen. Reife ist mehr als Spezialwissen.

Die Wissenschaftler glaubten hingegen, dass es nicht Besseres gibt, als die Wissenschaften. „Aber die Bürger einer freien Gesellschaft können sich mit einem solchen frommen Glauben nicht zufrieden geben. Teilnahme von Laien an grundlegenden Entscheidungen ist daher geboten, selbst wenn eine solche Teilnahme die Erfolgsrate der Entscheidungen vermindern sollte.“


Feyerabend gibt zu, dass nur wenige Demokratien diesen Maßstäben genügen, „aber wenn sie es tun, dann leisten sie einen sichtigen Beitrag zu unserer Zivilisation.“

Zitate aus: Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M. 1980 (Suhrkamp), hier: 167ff

Donnerstag, 28. November 2013

Manfred Koch und die "Kunst der Faulheit"

In fünf Essays legt Manfred Koch mit seinem Buch „Faulheit. Eine schwierige Disziplin“ eine unterhaltsame und kompakte Kulturgeschichte des Müßiggangs im Spiegel von mehr als zwei Jahrtausenden vor und führt seine Leser in die schwierige Kunst der Faulheit ein.

Dolce far Niente (John William Waterhouse, 1880)

Der Traum vom Nichtstun ist uralt. Neben den Ursprungsmythen der Menschheit, die nahezu einmütig den Menschen als Kulturwesen entwerfen, gibt es eine Vielzahl von Mythen der Faulheit - der süße Traum vom Nichtstun wurde geboren. In den Paradiesphantasien leistete der Mensch bereits Arbeit, wenn auch im Einklang mit seiner Natur. Noch war ihm die Unterscheidung zwischen Plackerei und Müßiggang fremd. Das sollte sich jedoch jäh ändern.

Die Erfindung des fleißigen Menschen und Faulheit als Zivilisationskritik sind zwei weitere Pole, die Koch in seinem Buch behandelt: Heute, da Vollbeschäftigung als Gipfel des gesellschaftlich Erstrebenswerten gilt, Umtriebigkeit und atemloses "Am-Ball-Bleiben" auch nach der Arbeit angesagt sind, scheint jeder sich rechtfertigen zu müssen, der am Wochenende einfach nur Däumchen drehen möchte.

Arbeit und Umtriebigkeit - Die Feinde der Muße

Dabei galt „Muße“ zu haben in der Antike als Ideal, und selbst das Mittelalter übte noch Nachsicht gegenüber dem antriebslosen Nichtstuer. Erst die Neuzeit brachte die entscheidende Wende: Fortschrittsglaube und Veränderungswille ließen den Faulen seine Unschuld verlieren, machten ihn zur parasitären Existenz. Dennoch dürfen die trägen Helden der modernen Literatur – „Liegekur auf dem Zauberberg“ – auf heimliche Sympathien hoffen, nicht zuletzt, weil der Gedanke der Entschleunigung wieder an Akzeptanz zu gewinnen scheint.

Dennoch ist es nach wie vor schwer, sich der allgemeinen Geschäftigkeit zu verweigern und zugleich scheint es angesichts allgegenwärtiger Freizeitangebote und digitaler Zerstreuungen gerade heute sehr schwer sein, faul zu sein.

Wie also könnte eine „Kunst der Faulheit“ aussehen?

Eigentlich gibt es zunächst nichts einzuwenden gegen eine vita activa: „Dass wir nur tätig unsere Kräfte und damit im eigentlichen Sinn unser Leben spüren, ist eine so triviale wie grundlegende Einsicht. Niemand will, dass ihm sein Leben geschieht, deshalb macht Langeweile ängstlich“ (145).

Tätigkeit und Tätig-sein-können gehöre daher unbestreitbar zu den elementaren Bedingungen menschlichen Glücks: „Der anhaltend faule Mensch wäre ein Widerspruch in sich, er geriete war nicht unbedingt in körperliche Fäulnis, sein Leben zerfiele ihm aber“ (ebd.).

Im Anlehnung an Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht meint Koch, dass es zu den Pflichten gegen sich selbst gehöre, wenigstens den Versuch zu unternehmen, seinem Leben eine sinnvolle Form zu geben. Wer sich nur treibe ließe, kann seine Existenz auf dauer nicht genießen.

Andererseits gehören zu einem gelingenden Leben selbstverständlich auch Phasen der Ruhe. „Glück ist ein Augenblick, besagt eine populäre Formel. Aufs Ganze eines Lebens (oder längerer Lebensabschnitte) besteht Glück wohl eher darin, einen befriedigenden Rhythmus von Anspannung und Entspannung zu finden, genauer aus einem individuellen, jedem Individuum zuträglichen Rhythmus von Arbeit und Nichtstun im Rahmen der jeweiligen Kultur, in der man sich befindet.

Müßiggang ist aller Laster Anfang ... (Die 7 Todsünden, Pieter Breughel, 1558)

Es geht also auch darum, „den `Wechsel der Arbeiten´ selbst als eine Form der Entspannung zu betrachten, … sein Leben so zu gestalten, dass möglichst viele verschiedene Formen sowohl der An- als auch der Abspannung darin abwechseln. Die Ausrichtung auf Vielheit wäre auch der Schlüssel für eine zuträgliche, gleichsam diätetische Nutzung der Medien.“

Dagegen aber steht eine „Entspannungsindustrie, die Anleitungen und Therapien zur Schaffung von Seelenruhe verspricht“, die jedoch „dem Geist des Industrialismus“ darin verpflichtet bleibt, „dass sie Ruhe als technisch herstellbares Produkt und verkäufliche Ware“ versteht – „im Angebot ist die gesamte Tradition der Weisheitslehren antiker und fernöstlicher Herkunft“ – und bei der die „alten, biederen Bilder wie `das Hirn lüften´ oder `die Seele baumeln lassen´ durch nicht minder schreckliche Metaphern wie `seelisch offline gehen´ oder `das Gehirn auf Leerlaufnetzwerke umschalten´“ ersetzt werden (149ff).

Paul Cézanne, Les joueurs de carte (1892-95)

Weil es gerade keine verbindlichen Rezepte und Heilsgarantien gibt, ist die Zusammenstellung einer „Faulheitsdiät“ die Sache jedes einzelnen, die auch ein gerütteltes Maß an experimenteller Lust verlange. „Aber die Anstrengung lohnt sich“ (153).

Zitate aus: Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe 2012 (zu Klampen) - Zum Hören: Manfred Koch im Philosophischen Radio auf WDR 5



Donnerstag, 21. November 2013

Michael Landmann und der Wachstumsrhythmus

Die Sonderstellung des Menschen !?
In der Geschichte der Philosophie wurde die Frage nach dem Menschen als Naturwesen in zweierlei Hinsicht gestellt. Einerseits fragte man nach der Stellung des Menschen in der Natur, insbesondere nach seinem Verhältnis zu den Tieren. Andererseits ging es um die Natur, d.h. um das Wesen des Menschen, vor allem um die Rolle von Trieb und Vernunft.

In der griechischen Antike waren beide Aspekte in der Vorstellung vom Menschen als Teil der kosmischen Natur gleichwohl eng verknüpft. Den Griechen galt der Kosmos als nicht geschaffen, ewig und als Inbegriff einer vernünftigen und göttlichen Ordnung, der Mensch seinerseits galt als das höchste Naturwesen, das durch seine Vernunft an der vernünftigen Ordnung des Kosmos teilhatte.

Sowohl Platon als auch Aristoteles vertraten eine Vernunftanthropologie, der zufolge das Wesen des Menschen in der Vernunft bzw. in seiner Vernunftfähigkeit sieht. Die Rationalität des Menschen dominiert über seine körperliche, rein tierhafte Verfassung einschließlich der Triebe, Begierden und Instinkte. Erst durch seine geistigen Fähigkeiten wird der Mensch in einem vollen Sinne Mensch.

Der Vernunftanthropologie entgegen steht der Ansatz Arnold Gehlens, der auch die Frage nach der Sonderstellung des Menschen in der Natur zu beantworten versucht, ausgehend von der Biologie und einem Mensch-Tier-Vergleich. Gehlens zentrale These lautet, dass der Mensch als natürliches Lebewesen ein „Mängelwesen“ ist, das nur mit dürftigen Instinkten und begrenzt leistungsfähigen Organen ausgestattet ist. Daher muss sich der Mensch, wenn er überleben will, eine „zweite Natur“, eine künstlich-technische Ersatzwelt erschaffen, die Kultur.

Michael Landmann
Einen Mittelweg geht Michael Landmann, der die These vertritt, nach der der Mensch grundsätzlich anders als jedes Tier ist. Um die Sonderstellung im Bereich der Lebewesen zu beweisen, sei es gar nicht nötig, über seine (animalische) Körperlich­keit noch eine (geistige) Schicht der Vernunft zu legen. Während das Tier eingebunden und abhängig von seiner Um-Welt ist, lebt der Mensch welt-offen in sozialen und kulturellen Beziehungen.

Für Landmann ist evident, das schon die die Körperlichkeit des Menschen ist eine "spezifisch menschliche Körperlichkeit“ ist. Landmann wendet sich damit deutlich gegen die Vernunftanthropologie mit ihrer Tendenz, das vitale Substrat des Menschen gewissermaßen tierisch sein zu lassen. Danach beginne erst mit dem Geistigen, das über dem Tierischen steht, das eigentliche Menschsein. Landmann hält dagegen: „Vertiefte Einsicht dagegen weiß wieder: Bereits das Biologische an uns ist durch und durch menschlich. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier von vornherein durch ein ganzheitliches Aufbaugesetz, das auch sein Physisches einbegreift, auch an ihm schon das menschliche ausprägt. Er hat `weder Kern noch Schale´.“

Man kann Landmann zufolge sehr gut beobachten, dass körperliche und geistige Eigenschaften des Menschen nicht unabhängig voneinander existieren: „Sie sind nicht zwei getrennte Sphären oder Schichten, die sich bloß übereinander türmen. Beide sind aufeinander hingeordnet und bedingen sich gegenseitig. Gerade diese Körperlichkeit bedarf zu ihrer Ergänzung dieser Geistigkeit und umgekehrt.“

Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier sieht Landmann in der Art der Steuerung. Weil das Tier in seinem Verhalten durch Naturinstinkte gesteuert kann, bedarf es auch, nachdem es geboren ist, keiner langen Jugend: „Die Instinkte brechen von selbst in ihm durch.“

Der Mensch dagegen ist geistgesteuert. Dabei besitzt „Geist“ eine doppelte Dimension: So wird der Mensch gesteuert "einerseits vom subjektiven Geist seiner eigenen Person wie - was zunächst noch schwerer wiegt - vom objektiven Geist der sozialen Gruppe, in der er groß wird, von der von Gruppe zu Gruppe variierenden Kultur, die den verfestigten Niederschlag früheren subjektiven Geistes darstellt.“


Ist Geiststeuerung abhängig von der Gehirngröße?

Kultur ist die „zweite Natur“ des Menschen. Soweit gibt Landmann Gehlen Recht, aber: „In diese Kultur aber muss jeder erst hineinwachsen, er muss sie lernend in sich aufnehmen.“ Kulturelle Gepflogenheiten, Sprache, Sitte, aber auch technische Handhabe liegen nicht als fertige Anlagen bereit, die sich dann wie Instinkte bei Tieren nur auf den auslösenden Reiz warten, um sich entfalten zu können. Vielmehr hat der Mensch nur "eine Anlage: dies alles zu lernen; nur einen Instinkt: den des Nachahmens." So sei das "Nachäffen" nicht nur eine Eigenschaft der Primaten, sondern vor allem auch des Menschen: "Er muss das kulturelle Traditionsgut seiner Gruppe erst in einem eigenen Aneignungsprozess für sich übernehmen und einüben."

So erkläre sich auch die frühe Geburt des eher „unfertigen“ Menschen: „Sobald es irgend angeht, solange er noch so plastisch wie möglich ist, soll er bereits in Kontakt mit seinen Sozialgenossen stehen, sollen die kulturellen Normen, die er übernehmen muss, auf ihn einwirken.“ Selbst so grundsätzliche Fähigkeiten wie der aufrechte Gang beruhen nicht auf erblich angeborener Anlage, sondern hängen ab vom Einfluss und dem Vorbild der Erwachsenen. Junge Säugetiere beherrschen dagegen Haltung und Bewegungsweise ihrer Art bereits von Geburt oder fast von Geburt an.

Wachstumsrhythmus und Aneignung von Traditionsgütern beim Menschen

„Das erste Lebensalter des Menschen ist kein `Schimpansenalter´, er muss nicht erst `den Affen in sich´ überwinden. Von allem Anfang an wächst, reift er und bewegt er sich nach eigenen Gesetzen.“ So lässt sich auch die lange Jugend des Menschen besser verstehen: „Die Aneignung der Kultur ist etwas derart Schwieriges, dass er damit nicht nur früh beginnen muss, sondern auch dann noch außerordentlich lange Zeit dazu benötigt. Es genügt nicht, die kulturellen Einrichtungen und Gewohnheiten rein als solche zu kennen. Man muss sich gleichsam nicht nur mit dem kulturellen Vokabular, sondern auch mit der kulturellen Syntax vertraut machen.“

Jeder weiß, dass es erst nach sehr viel Lernen und Erfahrung gelingen kann, diesen komplexen Apparat der Kultur zu durchschauen und richtig zu bedienen, gerade weil es nicht nur darauf ankommt, die einzelnen Elemente der Kultur („Vokabeln“) isoliert voneinander zu betrachten, sondern als eine Summe von vielfältig geordneten und komplexen Zusammenhängen („Sätzen“) zu begreifen.

Zitate aus: Michael Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin 1982 (Gruyter) - Zum Hören: Marco Weh über "Kopf und Körper" im Philosophischen Radio auf WDR 5 

Donnerstag, 14. November 2013

Hesiod und die Arbeit

Über das Leben von Hesiod gibt es kaum zuverlässige Informationen. Wir wissen lediglich, dass er etwa 700 v.Chr. vermutlich in Askra, einem armen Ort in Böotien geboren wurde.

Hesiods Werke sind neben der Ilias und Odyssee Homers die Hauptquelle der griechischen Mythologie. Hesiod gilt darüber hinaus als Begründer des didaktischen Epos. „Werke und Tage“ (Ἔργα καὶ ἡμέραι) ist solch ein episches Lehrgedicht.

Der Inhalt des Gedichts ist äußerst vielfältig: Erzählt wird zunächst der Mythos von Prometheus und der Büchse der Pandora. Der zweite Teil beschreibt die Abfolge der fünf aufeinanderfolgenden Weltzeitaltern (Goldenes, Silbernes, Bronzenes Zeitalter, heroisches Zeitalter und Eisernes Zeitalter). Nun folgt die Erzählung vom Falken (=König) und der Nachtigall (=Dichter) und schließlich schildert Hesiod seine Vision von einem Reich der Gerechtigkeit, das er dem Reich der Hybris gegenüberstellt.

Wichtig für Hesiods Verhältnis zur Arbeit ist seine Lehre von den Weltzeitaltern. Danach gab es einst „einen Urzustand ungetrübten Glücks. Es war jenes Zeitalter, da noch Kronos, der Vater aller Götter, regierte und den Menschen unendliche Wohltaten bescherte“ (28):

„Diese lebten unter Kronos, der im Himmel als König herrschte, führten ihr Leben wie Götter, hatten leidlosen Sinn und bleiben frei von Not und Jammer; 

nicht drückte sie schlimmes Altern, sie blieben sich immer gleich an Händen und Füßen, lebten heiter in Freuden und frei von jeglichem Übel und starben wie von Schlaf übermannt. 

Herrlich war ihnen alles, von selbst trug ihnen die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle. Sie aber taten ihre Feldarbeit ganz nach Gefallen und gemächlich und lieb den seligen Göttern“ (Hesiod, 111-120).

Hesiod stellt sich die Urmenschen also als Bauern und Viehzüchter, als „ätherische Landwirte“ (29) vor, die zwar arbeiten, aber eben `ganz nach Gefallen´ und `gemächlich´, „inmitten einer Verwöhnnatur, die nichts zu wünschen übrig lässt“ (28f).

Auf das Goldene folgt das Silberne Zeitalter, dann das Bronzene. Als Zwischenspiel kommt unvermutet das Zeitalter der Heroen, in dem unter anderem auch Odysseus und Achilles gelebt haben und der Trojanische Krieg stattgefunden hat – und schließlich das Eiserne Zeitalter.

Letzteres ist „gekennzeichnet durch Arbeitsfron, Konkurrenz und Misstrauen unter den Menschen“ (29). Hesiod schilderd hier schonungslos die Beschwerlichkeit und die Entbehrungen des bäuerlichen Lebens. Hier kann Hesiod auch seine umfassende Kenntnis bäuerlicher Tätigkeiten ausbreiten.

Kombiniert wird die Erzählung von den Zeitaltern mit dem Mythos von der Büchse der Pandora: Auf Weisung des Zeus hatte Hephaistos aus Lehm die erste Frau geschaffen, die den Namen Pandora erhielt. Sie war ein Teil der Strafe für die Menschheit wegen des durch Prometheus gestohlenen Feuers. Zeus wies Pandora an, den Menschen die Büchse zu schenken Sie öffnete die Büchse und daraufhin entwichen aus ihr alle Laster und Untugenden:

„Das Weib aber hob mit den Händen den mächtigen Deckel vom Fass, ließ alles heraus und schuf der Menschheit leidvolle Schmerzen“ (Hesiod, 94f).
 
... und damit fing der ganze Ärger an ...

Von diesem Zeitpunkt an eroberte das Schlechte die Welt: „Die Verstoßung aus dem Gnadenstand erfolgt, weil der Mensch sich mit dem Feuererwerb die Grundlagen seiner Kultur eigenmächtig angeeignet hat. Zuvor hatten die Götter ihm bei seinen `Werken´ gleichsam die Hand geführt, nun wirtschaftet er, im Besitz des Feuers, das ungekannte Werkzeuge zu schmieden erlaubt, auf eigene Faust drauflos. Die Strafe besteht darin, dass er nun tatsächlich seinen Lebensunterhalt herstellen, selbst produzieren muss“ (30), denn „Zeus verbarg die Nahrung grollenden Herzens“ (Hesiod, 47).

Obwohl die Hoffnung – das einzig Positive unter allen „Geschenken“ Pandoras – in der Büchse verschlossen blieb, will Zeus doch, dass in dieser gefallenen Welt Gerechtigkeit herrscht. Das wird am Ende des Werkes mehr als deutlich.

Der Anlass für die Abfassung von Werke und Tage ist ein Streit zwischen Hesiod und seinem Bruder Perses. Dieser hatte versucht, durch Meineid und Bestechung von Richtern Hesiod um sein Erbe zu bringen. Den Grund für dieses niederträchtige Verhalten erkennt Hesiod in der Faulheit und Trägheit seines Bruders. Diesem hält er die eigene Lebensweise entgegen, nach der man sich durch harte bäuerliche Arbeit Wohlstand zu erwirtschaften hat.

Griech.-lat. Ausgabe von 1539 (Basel)

Auf diese Weise wird Hesiods Buch zu einem umfassenden Appell an den Bruder, Einsicht zu zeigen und den Zorn der Götter nicht weiter zu steigern: „Er muss fleißig werden, sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Nachdem Zeus uns einmal mit der Arbeit geschlagen hat, bleibt nichts anderes übrig, als dieses Joch auf sich zu nehmen“ (31f):

„Vor das Gedeihen jedoch haben die ewigen Götter den Schweiß gesetzt“ (Hesiod, 289).

So ist es „der Wille der Götter, dass den Tüchtigen und Gerechten ein besseres Leben beschieden ist. Sie genießen den Lohn ihrer Mühen `bei frohen Festen´, ja, ihre Frauen `gebären den Vätern gleichende Kinder´! Werke und Tage ist eine Ermahnungsschrift, die auf diese Weise die verfluchte Arbeit zugleich anpreist und dem Bruder Schritt für Schritt erklärt, was auf einem Landgut über das Jahr hinweg zu tun ist“ (32):

„Dem aber zürnen die Götter und Menschen, der faul dahinlebt nach Art der stachellosen Drohnen, die faule Prasser sind und den mühsam geernteten Honig der Bienen verfressen; 

du aber tue mit Lust beizeiten die Feldarbeit, damit sich deine Scheuer mit reifem Ertrag fülle. Arbeit macht Männer reich an Herden und Habe, denn wer zupackt, ist Göttern um vieles erwünschter und auch Menschen, denn Faulpelze hassen sie gründlich.

Arbeit bringt keine Schande, Nichtstun aber ist Schande. Regst du dich nämlich, beneidet dich bald der Faule, weil du reich wirst. Den Reichtum aber begleiten Ehre und Ansehen“ (Hesiod, 303-313).


Nachtrag

In Aischylos Tragödie Der gefesselte Prometheus verteidigt sich Prometheus gegen die Vorwürfe, er habe die Vertreibung der Menschen aus dem Ur-Paradies verschuldet. Denn die Menschen im angeblich Goldenen Zeitalter waren primitive Lebewesen:


"Erdeingegraben wohnten sie, den wimmelnden
Ameisen gleich, in Höhlenwinkeln sonnenlos" 
(Aischylos, 452ff).  

Er aber habe ihnen nicht nur das Feuer, sondern überhaupt die Kultur gebracht, die sie zu wahren Menschen und Herrschern über die Erde gemacht habe:


"Sonder Ordnung, sonder Zweck
war, was sie taten; bis ich ihnen deutete
Der Sterne schwer verständlichen Auf- und Niedergang,
Die Zahl, des Geistes kühnen Griff, fand ich für sie,
Dazu geschrieb´ner Zeichen Fügung, aller Ding´
Gedächtnis, mächtig Werkzeug jeder Musenkunst.

Dann spannt´ ins Zugjoch ich zum erstenmal den Ur,
Dem Pflug zu fronden, daß damit dem Menschenleib
Die allzu große Bürde abgenommen sei,
Und schirrt´ das zügelkauende Roß dem Wagen vor,
Des überreichen Prunkes Kleinod und Gepräng;
Und auch das flutdurchschweifende, leingeflügelte
Fahrzeug des Meeres erfand kein anderer als ich."

Es ist kein Zufall, dass sich diese Interpretation der Vorgeschichte als Erfolgsgeschichte des Fortschritts, wie sie Aischylos Prometheus in seiner Tragödie in den Mund legt, in Athens Blütezeit im 5. Jahrhundert v.Chr. durchsetzte.


Zitate aus: Manfred Koch: Faulheit, Eine schwierige Disziplin, Springe 2012 (zu Klampen) -  Hesiod: Werke und Tage, übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 2004 (Reclam)  -  Aischylos: Die Tragödien und Fragmente, Stuttgart 1977 (Kröner)  -  Zum Hören: Manfred Koch im Philosophischen Radio auf WDR 5 

Donnerstag, 7. November 2013

Nicolás Maduro und das Ministerium für Glückseligkeit

Nicht erst seit Karl Raimund Popper weiß man, dass die Verbindung von Politik und Romantik fatale Folgen hat für das Leben in einer staatlichen Gemeinschaft. Anstatt auf die Vernunft setzt man eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder. Diese irrationale Einstellung – Popper nennt sie „Romantizismus“  –, „die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht … mag einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber sie wendet sich immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft.“

Maduro sucht das Glück
Am 24. Oktober 2013 kündigte der venezolanische Präsident, Nicolas Maduro die Gründung eines „Vizeministeriums zur obersten sozialen Glückseligkeit des venezolanischen Volkes“ (span. Viceministerio para la Suprema Felicidad Social del Pueblo venezolano) angekündigt, das sich mit “direkten Eingriffen” um das Glück der Untertanen kümmern soll.

Im 5. Buch seines Werkes „Der Wohlstand der Nationen“ beschrieb Adam Smith noch wie selbstverständlich die drei klassischen Aufgaben des Staates: Landesverteidigung, Justizwesen und Öffentliche Anlagen bzw. Einrichtungen.

Das „Erreichen der Glückseligkeit“ ist sicherlich für jeden Menschen eine individuelle Herausforderung im Leben. Ob man sich allerdings wirklich wünschen soll, dass die Politiker sich direkt darum kümmern mögen, die Glückseligkeit der Bürger zu erreichen – statt über die Schaffung guter Rahmenbedingungen, innerhalb derer jeder Einzelne auf seine ganz individuelle Weise sein Glück – und nicht das Glück – finden kann –, ist zu bezweifeln.

Für Jakob Burckhardt ist die Hauptaufgabe des Staates der Interessenausgleich. Daher sei es „eine Ausartung und philosophisch-bürokratische Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will“ – und dazu gehört ja die Vorstellung vom vollkommenen Glück.

In Venezuela dagegen soll das neue Glücksministerium nun die 30 verschiedenen Sozialprogramme der Regierung koordinieren und verwalten. Dazu gehören Sanitätsstationen, Schulen und Geschäfte mit subventionierten Lebensmitteln in den Armenvierteln. "Missionen" werden diese Niederlassungen genannt, ein System, das der verstorbene Präsident Hugo Chávez hatte diese System nach kubanischem Vorbild eingeführt hatte.

Chávez hatte es während seiner Amtszeit immer hervorragend verstanden, den Grundwiderspruch des Landes zu verschleiern: Einerseits sitzt Venezuela auf Unmengen von Erdöl und verdient damit Milliarden Dollar. Andererseits wuchern die Slums.

Maduro - ein neuer Messias für die Glückseligkeit

Viele Venezolaner sind daher auch eher unglücklich. Die Inflation liegt bei knapp 50 Prozent. Mancherorts sind auch Maismehl und Milchpulver knapp. Klopapier fehlt schon seit Wochen. Immer mal wieder fällt der Strom aus, und die Mordrate ist katastrophal hoch.

Venezuela funktioniert also unter Maduro noch schlechter als zuvor. Um seine eigene Unfähigkeit zu kaschieren, hat Maduro jetzt angekündigt, den Tag der Kommunalwahlen am 8. Dezember zum "Tag der Treue und Liebe zu Chávez" zu küren.

Natürlich ist gegen eine Politik, die versucht, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern, überhaupt nichts einzuwenden. Hier aber liegt der Verdacht nahe, die Menschen vorrangig mit politischen Mitteln glücklich zu machen.

Auch Ludwig von Mises betont, dass alles, was über die eigentlichen Aufgaben des Staates – das sind der Schutz des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Privateigentums – hinausgeht, von Übel ist: „Eine Regierung, die, statt ihre Aufgabe zu erfüllen, darauf ausgehen wollte, selbst das Leben und die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum anzutasten, wäre natürlich ganz schlecht.“

Überhaupt nichts hält von Mises vom „abstrusen Mystizismus“ einer Staatsvergottung und Staatsanbetung: Weder ist der der Staat „das unmittelbare und sichtbare Bild des absoluten Lebens, eine Stufe der Offenbarung des Absoluten, der Weltseele“ – so Schelling, noch „offenbart sich in dem Staate die absolute Vernunft, realisiert sich in ihm der objektive Geist“ – so Hegel.

Sobald man, so von Mises weiter, den Grundsatz der Nichteinmischung des Staatsapparates in allen Fragen der Lebenshaltung des einzelnen aufgegeben hat, wird man automatisch dazu gelangen, das Leben bis ins Kleinste zu regeln und zu beschränken. „Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit. Man braucht sich gar nicht auszumalen, wie solche Befugnisse von böswilligen Machthabern mißbraucht werden könnten. Schon die vom besten Willen erfüllte Handhabung derartiger Befugnisse müsste die Welt in einen Friedhof des Geistes verwandeln.“


Das Glück liegt auf der Straße !? - Slum in Caracas

Seine absolute Grenze findet die staatliche Macht jedoch in der individuellen Suche nach Sinn und Glück. Kaum jemand hat diesen Gedanken besser formuliert als John Stuart Mill: „Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde, oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorstellungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muss das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten.“

Es ist daher die Pflicht eines jeden autonomen Subjekts, sich „gegen die Bevormundung der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls“ zu wehren. „Man muss sich schützen gegen die Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihr eigenes Denken und Tun als Regel auch solchen aufzuerlegen, die davon abweichen. Man muss sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung zu hemmen und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eignen Muster zu richten.“

Das Venezuela Maduros jedenfalls nimmt mit der Einrichtung eines Ministeriums für Glückseligkeit geradezu orwellsche Züge an. Auch hier gibt es ein „Ministerium für Überfluss“, dass eben nicht den Überfluss, sondern den Mangel verwaltet. Wer wollte da nicht Parallelen ziehen zum „Toilettenpapierüberfluss“ in Venezuela …

Es bleibt dabei, was Popper schon vor über einem halben Jahrhundert eindringlich formulierte: „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag man diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“




Das "Ministerium für alberne Gänge" (“Ministry of Silly Walks”) von Monty Python scheint im Vergeich zum Glücksministerium geradezu sinnhaft und in jedem Fall weniger gefährlich ....

Nachtrag vom 10.11.2013: 
Wie Nicolas Maduro die "Glückseligkeit" in Venezuela auf politischem Wege erreichen will, hat er nun mit aller Deutlichkeit demonstriert: Nachdem er angeordnet hatte, die Geschäftsführung und etwa 500 Mitarbeiter der Ladenkette Daka (Haushaltsgeräte) zu verhaften, befahl er dem Militär, die Geschäfte zu besetzen und umgehend mit dem Verkauft sämtlicher Artikel zu beginnen - zu einem gerechten Preis, wie er sagte. 
Billig einkaufen (Foto: EFE)
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der "Verkauf" allerdings lief dann - dafür braucht man kein Prophet sein - auf eine Art und Weise ab, die eigentlich nur den Namen "Plünderung" verdient: Zerbrochene Fensterscheiben und schlichter Diebstahl - darin besteht das "Glück" in Venezuela ... - außer natürlich für die in Haft einsitzenden Unternehmer und ihre Mitarbeiter!


  
Zitate aus: Zitate aus: Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Wiesbaden 2009 (Marixverlag)  -  J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)  -  Ludwig von Mises: Liberalismus. Jena 1927 (online unter: http://docs.mises.de/Mises/Mises_Liberalismus.pdf