Donnerstag, 28. Juni 2012

Sylvain Maréchal und die Gleichheit


Sylvain Maréchal (1750-1803)
Nach dem Sturz der Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Robespierre ging die Herrschaft des Nationalkonvents auf das Direktorium über. Am 26. Oktober 1795 trat die neue Verfassung in Kraft, die erstmals die Einführung eines Parlamentes mit zwei Kammern vorsah, bestehend aus dem Rat der Fünfhundert und dem Rat der Alten. Die Exekutive lag nun in der Hand des  fünfköpfigen Direktoriums, dessen Mitglieder vom Ältestenrat aus einer Liste gewählt wurden, die ihm vom Rat der Fünfhundert vorgelegt wurde.

Der Sturz des Direktoriums war das Ziel der „Verschwörung der Gleichen“, die unmittelbar nach Amtsantritt des 1. Direktoriums von dem für seine blutrünstige Radikalität bekannten Revolutionär François Noël Babeuf (auch Gracchus Babeuf) initiiert wurde.

An dieser Verschwörung war auch Sylvain Maréchal (1750 – 1803) beteiligt, der die Französische Revolution seit ihren Anfängen enthusiastisch unterstützt hatte. Für die Verschwörung schrieb Maréchal das „Manifest der Gleichen“, das als revolutionäre Proklamation an das Volk gedacht war, aber letztlich unveröffentlicht blieb. In diesem Manifest fordert Maréchal die Verwirklichung völliger sozialer Gleichheit durch Abschaffung des Privateigentums. Er ist damit zugleich ein Vordenker des Anarchismus.

„Gleichheit“ ist für Maréchal die „erste Sehnsucht der Natur, erstes Bedürfnis des Menschen, wichtigstes Band einer jeden rechtmäßigen Verbindung.“ Und dennoch muss er beobachten, dass man die Menschen schon  immer „mit schönen Worten eingelullt“ hat und daher laste „seit urvordenklichen Zeiten schamlos die erniedrigendste wie ungeheuerlichste Ungleichheit auf dem Menschengeschlecht.“

In Maréchals Augen liegt der Grund für die Ungleichheit darin, dass man sich bisher immer mit der „bedingten Gleichheit - vor dem Gesetz seid ihr alle gleich -“ begnügt hat, aber diese Gleichheit eben „nichts anderes als eine schöne und fruchtlose Rechtsfiktion“ sei.

Maréchal fordert daher die „wirkliche Gleichheit oder aber den Tod; das ist es, was wir brauchen. Und wir werden sie haben, diese wirkliche Gleichheit, koste es, was es wolle. Wehe denen, auf die wir zwischen ihr und uns stoßen!“

Schon einmal sei das Volk „über die Leiber der Könige und Priester hinweggeschritten“ und „ebenso wird es den neuen Tyrannen ergehen, den neuen politischen Tartuffes, die auf den Plätzen der früheren sitzen.“

So klingt es hochtönend aus dem Manifest: „Verschwindet endlich, ihr empörenden Unterscheidungen von Reich und Arm, von Hoch und Niedrig, von Herr und Knecht, von Regierenden und Regierten!

Das Mittel, das Maréchal vorschlägt um seine Gleichheitsutopie zu erreichen, ist die Abschaffung des Privateigentums. Was Maréchal hier entwickelt, ist nichts anderes als die Utopie eines agrarischen Sozialismus mit kollektivem Eigentum an Gütern: „Kein Privateigentum mehr an Grund und Boden, die Erde gehört niemandem. Wir verlangen, wir willen die gemeinschaftliche Nutznießung alles dessen, was die Erde hervorbringt: Ihre Früchte gehören jedermann.“

Erst dann werde es „keine Unterschiede mehr geben zwischen den Menschen als jene des Alters und des Geschlechts. Da alle die gleichen Bedürfnisse haben und die gleichen Anlagen, so mag es denn für sie nur mehr eine gleiche Erziehung, eine gleiche Nahrung geben.“

Das „Manifest der Gleichen“ ist ein typisches Beispiel für den utopischen Versuch einer sozialen Planung großen Stils. Karl Raimund Popper bezeichnet diesen Versuch als ein „Irrlicht, das uns in einen Sumpf lockt“, denn „die Hybris, die uns versuchen lässt, dass Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können“ (Popper, Elend, Vorwort).

Es ist nicht nur die Ablehnung der formalen Rechtsgleichheit, die mit einem modernen demokratischen Rechtsstaat in krassem Widerspruch steht. Es ist auch die Sprache Maréchals, die verrät, dass auch seine Utopie höchstwahrscheinlich zu Gewalt führen wird, denn er wird alle ketzerischen Ansichten ausrotten müssen und diejenigen unterdrücken und auch töten, die seine Ziele nicht teilen.

Auch Maréchals Gesellschaftsvorstellung ist ohne eine streng zentralistische Herrschaft einiger weniger nicht möglich und führt daher mit aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur – wie die der Jakobiner.

Zentralisierung im politischen Bereich bedeutet immer auch die Ausschaltung jeder Diskussion zwischen streitenden Parteien. Damit endet zugleich auch jede individuelle Freiheit: Niemand braucht mehr selber entscheiden, man gehorcht einfach einem "Führer". Autonomes Denken und Handeln wird schließlich als die Ursache für alle nur denkbaren Problemlagen im politischen und privaten Leben betrachtet.

Zentralisierung im geistigen Bereich aber ist noch folgenreicher. Denn sie bedeutet die blinde Bildung an eine allgemeingültige Ideologie – hier die „wirkliche Gleichheit“ - mit allgemeingültigen Symbolen und einer dogmatischen Grundlage für die Erziehung. Man sehnt sich nach der Möglichkeit, sich für Symbole zu begeistern und sich einer Idee, die über aller Kritik steht, hinzugeben.

So ist auch Maréchal einer dieser wohlmeinenden Utopisten, die die utopische Forderung einer gerechten Gesellschaft, in der die Menschen „als Gleiche unter Gleichen“ leben können, durch die Forderung ersetzen, diese Menschen so „gleichzumachen“, also so umzuformen, dass sie in die neue Gesellschaft passen – im Zweifelsfall mit Hilfe der Guillotine …

Die Waffen der Radikalen (Karikatur von George Cruikshank, 1792–1878)

Übrigens: Die Pläne der „Gleichheitsverschwörer“ wurden verraten, Babeuf im Mai 1796 verhaftet und schließlich Ende Mai 1797 hingerichtet. Maréchal entging der Verhaftung. Er war vorsichtig genug gewesen, seine Texte nur anonym zu publizieren. Da er dies auch weiterhin tat, konnte er sich bis zu seinem Tod im Jahre 1803 auch weiterhin unbehelligt dem Schreiben widmen.

Nach vier Jahren Herrschaft wird das Direktorium schließlich am 9. November 1799 durch Napoleon Bonaparte gestürzt. Einen Tag später lässt sich Napoleon zum 1. Konsul wählen, die Konsulatsverfassung tritt zwei Wochen später, am 24. Dezember 1799, in Kraft. Damit findet die Französische Revolution ihr Ende.

Zitate aus: Sylvain Maréchal: Manifest der Gleichen, in: Fritz Kool und Werner. Krause (Hgg): Die frühen Sozialisten, Bd. 1, München 1984 (dtv)
Weitere Literatur: Karl Raimund Popper: Das Elend des Historismus, Tübingen 1993 (Mohr Siebeck)


Donnerstag, 21. Juni 2012

Arnold Gehlen und die Kultur

Jules Fernand Henri Léger (1881 – 1955) war ein leidenschaftlicher Anhänger der modernen Technik, die ihn wegen ihrer übermenschlichen Kraft und faszinierenden Schönheit begeisterte. Dementsprechend verwendete er für sein künstlerisches Schaffen Symbole der industriellen Welt und stellte die von ihm ausgewählten Objekte und Menschen maschinenähnlich dar.

Fernand Léger: Les Constructeurs (1950)

Seit Beginn der 50er Jahr stand für Léger die Arbeitswelt des Menschen im Zentrum seines Interesses. Ein Hauptwerk aus dieser Zeit ist "Les Constructeurs". Légers Bild bietet zugleich eine gute Möglichkeit, den anthropologischen Ansatz Arnold Gehlens (1904 – 1976) zu verfolgen.

Als Vertreter der modernen philosophischen Anthropologie besteht Gehlens Anliegen darin, die Frage nach der Sonderstellung des Menschen in der Natur zu beantworten.

Gehlen geht davon aus, dass die erste Besonderheit des Menschen allein schon darin besteht, dass er „nicht festgestellt“ ist, dass er sich selbst noch Aufgabe ist, d.h. die Notwendigkeit vorfindet, seine eigene menschliche Existenz zu deuten. Dies sei nicht nur ein theoretisches Bedürfnis, denn „ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen großen Unterschied in seinem Verhalten ausmachen.“ Das Deuten interpretiert Gehlen also bereits als Handeln.

Arnold Gehlen
Die zweite Besonderheit sieht Gehlen darin, dass der Mensch morphologisch im Gegensatz zu allen höheren Säugetieren hauptsächlich durch Mängel bestimmt ist, die er als Unangepasstheit und Unspezialisiertheit beschreibt:

„Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Schutz gegen Wind und Kälte; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten. Bereits während der Säuglings- und Kinderzeit unterliegt er im Vergleich zu anderen Tieren einer unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: Innerhalb natürlicher Bedingungen würde er schon längst ausgerottet sein.“

So ist der Mensch von einer „einzigartigen biologischen Mittellosigkeit.“ Aber diesen Mangel kann er durch seine Arbeitsfähigkeit, d.h. durch seine Hände und seine Intelligenz ausgleichen.

Zwar ist der Mensch organisch ein „Mängelwesen“ und als solches in der Natur nicht überlebensfähig, aber er erschafft sich eine zweite Natur, „eine künstliche und passend gemachte Ersatzwelt.“ In dieser Kulturwelt kann er sich deuten, kann er handeln, und zwar als Kulturwesen.

Wir begegnen dem Menschen überall auf der Welt, weil er überall leben kann. „Man muss die Resultate seiner Hand- und Verstandesarbeit zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen hinzunehmen, und diese Aussage gilt für kein Tier. Ein Vogelnest ist niemals vorausschauend geplant sondern immer nur rein instinktiv.“

Der Mensch dagegen hat gar keine andere Chance, als sich als Kulturwesen zu verstehen. So beginnt er, Werkzeuge und Technik zu entwickeln, die er benötigt, um die Natur um seiner Vorteile willen zu nutzen, manchmal auch auszunutzen. In jedem Fall fühlt der Mensch sich in dieser Technikwelt, die Léger so meisterlich dargestellt hat, ausgesprochen wohl.

So ist der Mensch für Gehlen einerseits zwar Mängelwesen, andererseits hat es gleichwohl „einen exakten und guten Sinn“, ihn auch als Prometheus zu bezeichnen.

Zitate aus: Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt, Wiesbaden 2003 (Aula) – ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbeck 1961 (Rowohlt)

Donnerstag, 14. Juni 2012

John Locke und die Menschenrechte

Tony Bevan: Der Prophet (1982)
In dem Bild „Der Prophet“ von Tony Bevan (geb. 1951) fallen zwei Gegenstände besonders auf: Die Handschellen und die Schere, die in der rechten Kopfhälfte steckt. Die symbolische Bedeutung des Bildes ist schnell erfasst: Dargestellt ist ein Mensch im Zustand der Unfreiheit. Die Schellen stehen für die Einschränkung des Handelns, die Schere steht für die Einschränkung des Denkens. Dieser Mensch kann nicht tun, was er will, und auch nicht sagen, was er will.

Handlungsfreiheit und Gedankenfreiheit sind zentrale Forderungen der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die die Menschenrechte in politische und bürgerliche Rechte sowie in wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gliedern. In jüngster Zeit werden zusätzlich insbesondere von Denkern der dritten Welt – die solidarischen Rechte eingefordert.

Ihre philosophische Grundlegung fanden die bürgerlichen Menschenrechte im Werk des englischen Philosophen John Locke, der sie als natürliche Grundfreiheiten bezeichnete, die nicht aus der Zugehörigkeit zu irgendeinem Kollektiv abgeleitet werden können, sondern die allein durch die Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte begründet werden.

John Locke (1632 - 1704) 

Der Anspruch der Individuen auf bestimmte natürliche Grundrechte wird bei Locke durch den Begriff des „Eigentums“ begründet. Locke verwendet im Englischen den Begriff „Property“, mit dem er drei andere Begriffe zusammenfasst: „Life“, „freedom“ und „estate“, also Leben, Freiheit und Besitz (Locke, Zweite Abhandlung, §87).

Aus diesem „Eigentum“ des Menschen leitet Locke nun die unverletzbaren Grundrechte des Menschen ab, das Recht auf die Integrität des Körpers („Leben“), die Rechte auf Meinungs-, Handlungs- und Bewegungsfreiheiten („Freiheit“) sowie das Recht zum rechtmäßigen Erwerb von materiellen Gütern („Besitz“).

Das Grundrecht auf Leben bezieht sich nicht nur auf die reine Selbsterhaltung, sondern schließt auch die Freude am Leben ein, es beschreibt somit das Recht „eines Menschen, die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen und zu erhalten“ (ebd., §2).

Das Recht auf Freiheit wird bei Locke weit gefasst: Es beschreibt das natürliche Recht eines jeden Menschen, frei zu handeln „ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (ebd., §87).

Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689)
Das Recht auf Besitz ergibt sich aus der Tatsache, dass der Mensch sich durch die Bearbeitung der Natur das Recht erwirbt, auch die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Allerdings schränkt Locke ein, dass jeder nur so viel zu seinem Eigentum machen darf, „als ein jeder zu irgendwelchem Vorteil für sein Leben nutzen kann, bevor es verdirbt … Was darüber hinausgeht, ist mehr als ihm zusteht, und gehört den anderen. Nichts wurde von Gott geschaffen, um zerstört zu werden“ (ebd., §31).

Die Grundrechte beinhalten insgesamt also das Recht der Menschen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse und auf Verfolgung ihrer selbstgewählten Ziele im Leben einschließlich des Wunsches, glücklich zu sein.

Dem Staat und seinen Institutionen kommt nach Locke nun die Aufgabe zu, die Grundfreiheiten wirksam zu schützen. Locke gibt dem Staat jedoch nicht die uneingeschränkte Macht, sondern fordert die Gewaltenteilung in Legislative und Exekutive. Die Judikative wurde dann etwas später von Charles de Montesquieu (1689-1755) hinzugefügt. Falls der Staat der Pflicht nicht nachkommt, die Freiheit und das Eigentum der Bürger zu schützen, verliert er für Locke seine Legitimation. Daraus ergibt sich zugleich ein Recht der Bürger auf Widerstand gegen die Regierenden.

Bei Locke sind die natürlichen Rechte des Individuums dem Staat übergeordnet und jeder Einzelne kann sie gegenüber dem Staat geltend machen. Noberto Bobbio (1909-2004) formuliert in seinem Buch „Das Zeitalter der Menschenrechte“ diesen Gedanken folgendermaßen: „Für die Individuen kommen von nun an die Rechte an erster Stelle und erst dann die Pflichten, für den Staat hingegen zuerst die Pflichten und dann die Rechte.“ (53)

Die Ideen von John Locke hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die von Thomas Jefferson formulierte amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, in der die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück festgehalten wurden. So baut die Einleitung der Unabhängigkeitserklärung direkt auf den Gedanken Lockes auf:

„Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für klar an sich und keines Beweises bedürfend, nämlich: daß alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesem Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre; dass, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; dass zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen.“

Aber auch die französische Verfassung von 1791, in deren Zentrum die auf „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ ruhenden Menschenrechte stehen, atmen den Geist Lockes – wie im übrigen die Entwicklung der modernen bürgerlich-liberalen Verfassungsstaaten ohne den Beitrag von Locke nicht möglich gewesen wäre.


Zitate aus: John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek) -- Weitere Literatur: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)

Donnerstag, 7. Juni 2012

Peter Sloterdijk und der Fußball

- Zur Fussballeuropameisterschaft 2012 - 


Peter Sloterdijk (*1947)
Wer vom Fußball reden will, darf von der Archäologie der Männlichkeit nicht schweigen. Dieser Meinung ist jedenfalls Peter Sloterdijk.

Fußball sei atavistisch, eine anthropologische Versuchsanordnung: „Seit einigen tausend Jahren suchen die männlichen Menschen nach einer Antwort auf die Frage: Was macht man mit Jägern, die keiner mehr braucht?“

Obwohl Männer von ihrem anthropologischen Design her so gebaut seien, dass sie an Jagdpartien teilnehmen sollten, werden sie seit gut 7000 Jahren, also etwa seit Einführung des Ackerbaus (lat. cultura - bezeichnenderweise), einem ausgeklügelten zivilisatorischen Beruhigungsprogramm unterworfen. 

Je höher die Zivilisation, desto stärker war der Versuch, den inneren Jäger davon zu überzeugen, dass es im Grunde eine Schande ist, ein Mann zu sein – es sei denn, sie spielen Fußball und ersetzen die Jagd nach dem Wild durch die Jagd nach dem Tor!

Sloterdijk zufolge gibt es kaum ein Spiel, bei dem "unsere" alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle so deutlich imitiert werden können wie beim Fußball: Nur „wenn man den inneren Jäger ganz paralysiert, ganz umgebracht hat, dann kommt man unvermeidlich zu der Überzeugung, dass es auf der Welt nichts Dümmeres gibt als die Reaktion von Fußballern nach dem Torerfolg. 

Der schwedische Fußballer Ibrahimovic beim Torjubel
Aber: Sobald man auf diesen Mord am inneren Jäger verzichtet und die alten Jagdgefühle zulässt, spürt man sofort, was auf dem Rasen verhandelt wird. Da wird nämlich das älteste Erfolgsgefühl der Menschheit reinszeniert: mit einem ballistischen Objekt ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln versucht, sich zu schützen.“

Besonderes Interesse zeigt Sloterdijk auch für den Zusammenhang zwischen Fußball und Nation bzw. Nationalgefühl. Die Bedeutung der Fußballnationalmannschaft sei bei allen modernen Nationen ähnlich simpel: „Da geschehen Stellvertretungsrituale, an denen sich ein Großteil der Population beteiligen will“ – und in diesem Sinne sind Nationen perfekte „Erregungsgemeinschaften.“

Das sei nicht immer unproblematisch: „Wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass die Kollektiverregungen, um mit Thomas Mann zu reden, "dämonisches Gebiet" sind, dann wird man vorsichtig bei allem, was aufputscht. Wir sind gebrannte Kinder, seit wir erlebt haben, dass Kollektiverregungen auch immer Produkt einer gewissen gewollten politischen Regie sein können. 

Sportminister Zapatero 
So ist es an Peinlichkeit kaum zu überbieten, wenn sich ein Staatspräsident bei einem wichtigen Spiel einen Fussballschal umhängt oder beim Empfang der eigenen Mannschaft nach einem Titelgewinn sich das Trikot überzieht ... - aber von Abseitsfalle oder Raumdeckung nicht die geringste Ahnung hat. Kaum noch zu toppen ist, wenn sich der  Staatspräsident gleich selbst zum Sportminister ernennt - wie in Spanien mit Jose Luis Zapatero tatsächlich geschehen ...

Solche emotionalen Liturgien werden nach bestimmten Regeln erzeugt und sind von Hause aus instrumentalisierbar. Die samstägliche Sportschau mit Heribert F. und der Wille zum Krieg sind psychologische Verwandte. Daher erweist sich der Enthusiasmus als ein missbrauchbares Phänomen. Also sollte man die deutsche Vorsicht nicht nur als eine Neurose ansehen. Es würde genügen, darauf hinzuweisen, dass man auch die Vorsicht moralisch missbrauchen kann: "Wer als Deutscher einmal miterlebt hat, wie Engländer feiern und Hymnen singen, meint unwillkürlich, der Faschismus sei auf die Britische Insel ausgewichen.“

Fußballer und Werbung

Sloterdijk macht jedoch auch deutlich, dass die Faszination am Fußball eher in den kleinen, am Rand liegenden Geschehnissen aufzufinden ist: „Das Einzige, was mich beim Fußball wirklich zutiefst beeindruckt, das ist diese Fähigkeit der jungen Spieler, hinzufallen und wieder aufzustehen. Das finde ich begeisternd.“

Natürlich wolle auch Sloterdijk keine harten Fouls und unfaires Geholze sehen, sondern nur, „wie Männer wieder aufstehen. Ich finde das ein Manifest der Antigravitation. Wenn man älter und schwerer wird, dann weiß man ja, wie es sonst zugeht. Ich falle gelegentlich vom Fahrrad, und die Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, ist eine grauenvolle Beleidigung. Deshalb habe ich großen Respekt vor diesem raschen Aufstehen bei hingefallenen Spielern. Das sind Momente, wo ich innerlich total beteiligt bin. Das Hinfallen gehört zur Sache, aber erst das Wiederaufstehen macht sie großartig.“

Leider habe sich auch hier der Fußball in die falsche Richtung modernisiert: „Ich beklage darum auch die neue Zwangsverarztung auf dem Feld: Ein angeschlagener Spieler, der noch laufen könnte, muss sich auf einer Bahre wegtragen lassen. Schauderhaft. Früher sind die Spieler heroisch selbst an den Rand gehumpelt. Jetzt werden sie obligatorisch abgeschleppt, das halte ich für eine Verirrung.“

Zitate aus: „Ein Team von Hermaphroditen“, Ein Gespräch von Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris Lothar mit Peter Sloterdijk, in: DER SPIEGEL 23/2006, S. 70ff (online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-47134766.html) - Auch wenn das Interview von Herrn Sloterdijk schon vor 6 Jahren gegeben wurde, halte ich die Gedanken für zeitlos ... - Auch sehr empfehlenswert: "Das philosophische Radio" mit Martin Gessmann über die Philosophie des Fussballs